Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rätsel Sigma

Das Rätsel Sigma

Titel: Das Rätsel Sigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
Vom Netzwerk:
war.“
    „Nein, ich konnte natürlich nicht wissen, daß es diese Entscheidung war“, wiederholte K. O. Herbert blickte ihm ins Gesicht. Der Alte sah ihn mit ersten und klaren Augen an. Seltsamerweise fühlte sich Herbert plötzlich in seiner Schuld. „Was meinen Sie denn dazu?“ fragte er.
    „Ja, was meine ich dazu“, wiederholte K. O. „Wissen Sie, als junger Mann hab ich einmal ein Kind überfahren. Es starb. Ich war absolut schuldlos daran, aber trotzdem“, er zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: „Trotzdem, um es wieder lebendig zu machen – ich will nicht gerade sagen, ich hätte ein Leben dafür hergegeben, ein Held bin ich nicht –, aber einen Arm oder ein Bein schon.“
    Herbert erhob sich und ging wortlos hinaus. Dieser festen Überzeugung hatte er, von Zweifeln hin und her gerissen, nichts entgegenzusetzen. Aber alles in ihm sträubte sich gegen eine solche Auffassung. Er war ehrlich genug zuzugeben, daß er sie vielleicht ganz vernünftig gefunden hätte, wenn es eben dabei nicht um Wiebke gegangen wäre. So aber strebte alles in ihm zu Wiebke hin, er mußte ihr nach, und er sagte zu Onkel Richard: „Kannst du die Geschichte in Oranienburg nicht selbst leiten? Oder wenigstens zu Anfang, ich würde dann nachkommen, irgendwann im Laufe des Vormittags?“
    „Nanu?“ Der Chemiker wunderte sich.
    Herbert zeigte ihm den Brief. Onkel Richard hatte wohl auch ein Recht darauf. Aber er merkte, das war nicht der einzige Grund. Es erleichterte ihn, mit anderen darüber zu reden, ihnen den Brief zu zeigen. Merkwürdigerweise erschien ihm der Brief, als er ihn jetzt zurücknahm, weniger schrecklich, so als würde der unerhörte Inhalt wenigstens etwas normaler, als nutzte sich das Unwiderrufliche ein wenig ab unter den Händen anderer.
    Dr. Willenius sagte gar nichts zu dem Brief. Er sah Herbert scharf an und meinte nach einigem Überlegen: „Ich würde ja sagen, wenn ich sicher wäre, daß du ganz fest entschlossen bist, Wiebke nachzufahren – obwohl du dort nicht helfen kannst, obwohl du in Oranienburg dringend gebraucht wirst. Bist du es wirklich?“
    Herbert ging ruhelos auf und ab, fand aber keine endgültige Antwort.
    „Helfen“, sagte der Chemiker nach einer Weile vorsichtig, „helfen kannst du deiner Frau eigentlich nur in Oranienburg. Sogar im doppelten Sinne.“
    Herbert hob ruckartig den Kopf, sagte aber nichts. Der Chemiker nahm es als Zeichen fortzufahren. „Verstehst du, was ich meine? Helfen, daß sie gesund wird. Und helfen, daß alle gesund werden. Darum hat sie es doch getan, das ist ihr Ziel.“
    Er sah, daß Herbert schwankend wurde in seinem Vorsatz, und womöglich noch vorsichtiger als bisher gab er Herberts Gedanken den entscheidenden Anstoß. „Ich verstehe nichts von Organisation“, sagte er, „und dein Genosse da, ich meine den Oberleutnant, wie heißt er doch gleich?“ – er versuchte, möglichst lange bei dessen Person zu bleiben –, „richtig, Fred Hoffmeister, also der wird es wohl allein auch nicht schaffen, oder was meinst du?“
    Fred! Jetzt erst wurde Herbert bewußt, daß sein Freund das gleiche durchgemacht haben mußte, nein, Schlimmeres, denn da gab es noch keinerlei Aussicht, noch nichts, was zu Optimismus Anlaß gegeben hätte, und er, Herbert… „Wir fliegen!“ sagte er rauh.
     
    „Was haben Sie getan?“ rief Frau Dr. Baatz entsetzt.
    Wiebke lehnte sich zurück und schlug mit gespielter Eleganz ein Bein über das andere. „Ich habe eine Dosis Sigmaphagin genommen, exakt um sieben Uhr acht. Sie haben also noch drei Stunden Zeit, den Prozeß des Einschlafens an mir zu studieren. Ich habe Ihnen hier alle Krankheiten notiert, die ich hatte, und alle psychischen Besonderheiten, derer ich mir bewußt bin. Weitere Auskünfte kann Ihnen jederzeit mein Mann geben. Und nun wollen wir die Zeit doch nicht mit moralischen Erörterungen vertun!“
    Über die Flure des Krankenhauses ging Wiebke in gelöster, fast heiterer Stimmung. Obwohl sie nicht einen Augenblick daran gezweifelt hatte, daß die Ärzte diese Vergiftung besiegen werden, war sie doch im Auto auf der Landstraße immer wieder zurückgeschreckt vor dem, was sie tun wollte. Nur durch den Gedanken an ihre Verantwortung und, wenn es ganz schlimm kam, durch die Erinnerung an Schirins schrecklichen Anfall, den sie hilflos hatte beobachten müssen, wurde sie in ihrem Vorsatz bestärkt.
    Jetzt war die Entscheidung gefallen, sie konnte nichts mehr tun oder unterlassen, sie war nur noch Objekt

Weitere Kostenlose Bücher