Das Rätsel Sigma
fremden Menschen, von denen keiner auf sie zutreten und Rechenschaft verlangen konnte, fühlte Wiebke zum erstenmal wieder den Druck von sich weichen.
Fast fröhlich steuerte sie auf eine der Kabinen zu, die gerade frei waren, gab dem Mädchen vom Empfang ihre Fahrerlaubnis und nannte eine Nummer; sie hatte in der Nacht bereits bestellt. Das Mädchen tippte auf einer Tastatur, kurz darauf machte es pflupp, sie entnahm der Rohrpost das Fahrtenbuch des Wagens und ließ Wiebke quittieren.
„Ihr Wagen wird Ausgang C Position dreizehn bereitgestellt“, sagte sie und gab ihr die Platzmarke. „Sie können gleich fahren!“
Wiebke dankte und verließ die Halle durch einen Nebeneingang. Als sie den Haltepunkt dreizehn erreichte, rollte auch schon der Wagen heran. Ein älterer Mann in der grünen Dienstkleidung der Südgarage stieg aus und grüßte sie. „Wieder mal zu einem Kongreß?“ fragte er.
Wiebke zuckte zusammen, als sie ihn erkannte – er fertigte meistens die Wagen der Plastvermüllung ab – aber dann antwortete sie leichthin: „So ungefähr!“
„Na, denn gute Fahrt!“
Etwas außerhalb der Stadt hielt Wiebke an. Eine Minute lang saß sie regungslos hinter dem Steuerrad. Dann griff sie entschlossen in die Manteltasche, holte etwas Papiernes heraus, wickelte ein Stück Zucker aus und steckte es in den Mund.
Als sie wieder startete, heulte der Motor des Wagens auf. –
„Das ist die letzte Bestätigung!“ sagte Dr. Willenius.
Sie waren auf dem Wege nach Oranienburg noch einmal in der Plastvermüllung gelandet, um nach der Produktion des Sigmaphagin zu sehen. Auch das gestern zuerst produzierte Toxin zeigte in der chemischen Reaktion noch die gleiche Aktivität – keine Spur von einer Zersetzung!
„Also gut, dann hängt jetzt alles davon ab, was wir in Oranienburg finden!“ sagte Herbert. „ Ich muß nur noch mal nach Wiebke sehen“, fuhr er fort, „ich habe ihr versprochen, sie um acht zu wecken. Es geht ganz schnell.“
Aber Wiebke war nicht in ihrem Labor. Statt dessen lag da, sehr groß und unübersehbar, ein Briefumschlag mit der Aufschrift: Für Herbert Lehmann.
Herbert schüttelte den Kopf und öffnete den Umschlag. Auf dem Blatt standen nur wenige Zeilen, aber sie zwangen ihn, sich nach einem Stuhl umzusehen und sich hinzusetzen:
Lieber!
Ich weiß, Du bist ein zuverlässiger Mann und kommst Punkt acht Uhr durch diese Tür. Sei nicht böse, wenn Du mich nicht mehr vorfindest. Ich bin zu dieser Zeit bereits in Neuenwalde, im Kreiskrankenhaus, oder kurz davor. Gegen sieben Uhr werde ich eine Dosis von dem Sigmaphagin nehmen. Du kannst es nicht mehr verhindern oder rückgängig machen, und ich bin sicher, daß Du meine Gründe respektierst. Ich habe mich darüber informiert, daß im Augenblick nur ein einziger Weg die Untersuchung weiterführen kann, und das ist die Beobachtung eines ersten Einschlafprozesses. Ich glaube, daß ich es den Kranken schuldig bin, diesen Weg zu gehen.
Bis bald!
Deine Wiebke!
P. S. Ich würde Dir gern noch mehr schreiben, aber das weißt Du ja sowieso. Außerdem kommt gleich K. O. durch die Tür, und der sieht mich schon dauernd so seltsam an, ich glaube, er ahnt etwas.
So ein Irrsinn! Herbert sprang auf. Anrufen! Nein – selbst hinterher, sie abfangen, Magen auspumpen, ein Brechmittel eingeben – er sackte wieder auf den Stuhl zurück. Alles Unsinn. Nichts mehr zu machen. Und – hatte er ein Recht dazu? Ach, Recht – fragt wer nach Recht in solchem Falle? Sie hatte gewußt, daß er es nicht zulassen würde.
Seine Gedanken verwirrten sich. Und dann drängte sich immer mehr ein Gedanke in den Vordergrund: K. O.!
Den Brief in der Hand, verließ er das Zimmer. Es fiel ihm nicht schwer, den alten Forschungsfacharbeiter zu finden. „Warum haben Sie das zugelassen?“ rief er zornig. „Was bitte!“ fragte K. O. ruhig. Er legte umständlich das Werkzeug aus der Hand und forderte Herbert zum Sitzen auf.
Herbert reichte ihm wortlos den Brief.
K. O. setzte eine Brille auf, las den Brief, gab ihn Herbert zurück und steckte die Brille wieder weg. „Ja“, sagte er. „Haben Sie davon gewußt?“
K. O. überlegte. „Sie kämpfte mit irgendeinem schwerwiegenden Entschluß“, bestätigte er dann.
Herbert rutschte zusammen. Wie konnte er den Mann so verdächtigen. Jeder vernünftige Mensch würde da doch eingreifen… „Entschuldigen Sie“, murmelte er. „Sie konnten natürlich nicht wissen, daß es diese Entscheidung
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