Das Rätsel Sigma
Fahrers seitlich aus der Kanzel heraushing, die Arme baumelten kraftlos hin und her.
„Du von rechts!“ keuchte Herbert. „Handbremse!“
„In Ordnung!“ rief der Oberleutnant.
Die Kombine schwenkte jetzt wieder auf die Chaussee zu. Sie fuhr nicht schnell, nur etwa zwanzig Stundenkilometer, trotzdem war ihr Vorhaben gefährlich, weil sie einen Gitterwagen hinter sich her zog, unter dessen Räder man geraten konnte. Aber noch gefährdeter war der Fahrer. Er war offensichtlich nicht bei Bewußtsein. Als sie näher kamen, erkannte Herbert, daß die Jacke des Fahrers sich irgendwo verfangen hatte und ihn hielt – jeder etwas zu heftige Stoß konnte sie reißen lassen, und dann…
Herbert lief jetzt dicht hinter der Kombine, den Oberleutnant sah er nicht, der war durch den halbvollen Anhänger verdeckt, Herbert keuchte, lange konnte er dieses Tempo nicht mehr durchhalten. Er beschleunigte mit letzter Kraft seine Schritte und sprang. Da – die Kombine machte eine kleine Wendung, die Hände erreichten das Ziel, aber nicht die Füße. Er machte einen Klimmzug und suchte mit den Füßen einen Halt, irgend etwas zum Darauftreten, aber nicht einmal der Klimmzug gelang, an Kopf und Schultern spürte er einen Widerstand, sogleich war ihm klar, daß das der Körper des Fahrers sein mußte. Er schaffte es aber, sich mit einem Fuß wenigstens seitlich abzustützen, jetzt pendelte er mit dem Oberkörper des Fahrers mit, er wagte nicht, aus dem halben Klimmzug wieder nach unten zu gehen, weil dann der Fahrer auf ihn stürzen konnte. „Die Bremse!“ schrie er, „Mensch, zieh die Bremse!“ Ein Ruck, er wurde in Fahrtrichtung geschleudert, hörte, wie der Motor tuckernd absoff, sein freier Fuß schlug schmerzhaft gegen Metall, plötzlich drückte eine. Zentnerlast auf seine Schulter.
„Halt fest, ich hab ihn gleich!“ rief der Oberleutnant. Die Last auf Herberts Schulter verringerte sich, jetzt konnte er schon mitschieben, sein freier Fuß fand auch Halt, obwohl das jetzt gar nicht mehr nötig gewesen wäre, denn die Kombine stand, aber alles ging so schnell, daß sie erst wieder zu sich kamen, als sie, rechts und links vom Fahrersitz stehend, einander schwer atmend ansahen, während der Fahrer in seinem Sitz friedlich schlummerte. Ja, kein Zweifel, er schlief. Beinah gleichzeitig lachten Herbert und der Oberleutnant auf. Es gab keinen Grund dafür, aber sie lachten. Es befreite sie von der Spannung.
Herbert hielt dem Oberleutnant die Hand hin. „Da werden wir am besten beim Du bleiben!“ sagte er.
„In Ordnung. Fred“, sagte der Oberleutnant.
„Herbert.“ Immer noch lachend schüttelten sie sich die Hand.
„Millimeterarbeit!“ rief eine Stimme. Der Fahrer ihres Wagens war es. Er stand auf der Chaussee und zeigte auf den Graben, von dem die Kombine nur noch einen halben Meter entfernt war. „Ich hab den Rettungswagen angerufen“, fügte er hinzu.
„Danke“, sagte Herbert, „dann kommen Sie jetzt mal herüber, wir können den Mann ja nicht so lange da oben sitzen lassen!“
Mit vereinten Kräften hoben sie den Kombinefahrer vorsichtig aus seinem Sitz und legten ihn auf eine Decke. Er war ein alter Mann mit sonnenverbranntem Gesicht und weißen Bartstoppeln.
Herbert suchte in seiner Jacke nach Papieren. In seiner Brieftasche fanden sie den Personalausweis.
„Den Ort kenn ich“, sagte der Fahrer, als sie die Personalien notierten. „Nicht weit von hier. So ein totes Dorf.“
„Totes Dorf?“ fragte Herbert verblüfft.
„So nennen sie hier die alten Dörfer, in denen nur noch ein paar Familien wohnen“, erklärte Fred Hoffmeister, der Oberleutnant. „Fahrt doch gleich mal hin, es genügt ja, wenn einer hierbleibt. Ich kann ja so nicht unter die Leute.“ Er zeigte auf ein paar größere Schmutz- und Schmierflecken auf seiner Uniform. „Aber laß vorher noch die Verkehrsbereitschaft anrufen. Sie können bei mir zu Haus vorbeifahren und Mantel und Anzug mitbringen.“
Das Dorf sah gar nicht so schrecklich aus, wie die umgangssprachliche Bezeichnung befürchten ließ. Freilich, wenn man genauer hinblickte, bemerkte man hier und da Zeichen beginnender Verwilderung, die abseits der Hauptstraße sicherlich noch ausgeprägter waren: ein paar staubblinde Fenster, wucherndes Unkraut zwischen Steinen. Aber einen Rat der Gemeinde gab es, eine Post war auch da, im gleichen Hause, es waren wohl doch noch mehr als „einige Familien“, die hier wohnten.
Die Postangestellte, eine ältere Frau,
Weitere Kostenlose Bücher