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Das Rätsel Sigma

Das Rätsel Sigma

Titel: Das Rätsel Sigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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unbewußt – hier festgeredet und festgedacht hatte, um den Zeitpunkt noch etwas hinauszuschieben, zu dem er Wiebke mit dieser Nachricht gegenübertreten mußte. Er erhob sich. „Also dann!“ sagte er.
    Vor dem Raum der Biologen zögerte er noch einmal. Dann öffnete er entschlossen die Tür.
    Mit einem kurzen Blick überflog er die Anwesenden und sagte dann zu Professor Novak: „Ich muß etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen. Vielleicht kann uns auch Doktor Willenius helfen. Fred, dich brauche ich auch. Du, Wiebke, bleibst am besten auch dabei. Können wir hier… oder…?“

    Der Professor verstand und schickte die Studenten mit verschiedenen Aufträgen hinaus.
    „Was hast du?“ fragte Wiebke, als er sie begrüßte, „du bist sonderbar!“
    „Also“, fragte Professor Novak, als die Studenten gegangen waren, „Sie haben die Quelle?“
    „Ja“, sagte Herbert. Er starrte Wiebke an. Ahnte sie schon etwas? In seiner Erregung wunderte er sich gar nicht über die Frage von Professor Novak. Dann, um nicht direkt zu Wiebke sprechen zu müssen, schilderte er so sachlich wie möglich die Zusammenhänge, die er in den letzten Stunden aufgedeckt hatte. Mag sein, daß er sich im Bemühen um Kürze zu knapp faßte, daß er den anderen zuwenig Zeit zum Mitdenken ließ – aber als er zum Schluß auf den Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt von Wiebkes Experiment, der Wetterlage und dem Futterschlag verwies, warf Wiebke ein: „Aber das ist doch alles Unsinn – keine biologische Substanz kann eine solche Explosion überstehen!“
    An sich war diese Reaktion ganz normal. Jeder, dem diese Gedanken unterbreitet wurden, brachte sofort dieses Argument. Dennoch erschrak Herbert. Alles hätte er erwartet: Betroffenheit, Unsicherheit, auch Schweigen, ja sogar Gekränktheit – aber nicht diese scheinbar unbeteiligte Sachlichkeit. Er hatte ganz vergessen, daß er selbst diesen Ton angeschlagen hatte. Und er hatte auch vergessen, daß Wiebke als einzige in diesem Kreis bisher außerhalb aller Ereignisse gestanden hatte, daß sie also gar nicht in der Lage sein konnte, sofort alle Zusammenhänge zu überblicken, daß vor ihr dabei nicht die Bilder der Vergifteten auftauchten, die sie ja nicht gesehen hatte, und nicht seine quälenden Sorgen der letzten Tage. Ungerechterweise empfand Herbert Wiebkes Haltung als kalt und verantwortungslos, und eine kleine, dumme Eitelkeit den anderen gegenüber, die Befürchtung, man könne ihn zu großer Nachsicht verdächtigen, ließ ihn schroff antworten: „Jedenfalls habt ihr die Vorschrift verletzt, sonst wäre das alles nicht passiert!“
    Aber Wiebke war mit ihrem Einwurf nur ihrem Temperament gefolgt. In der Tiefe ihres Bewußtseins begann sie gerade einzusehen, was sie angerichtet hatte. Ihre ganze Denkfähigkeit war von der Aufgabe in Anspruch genommen, das, was da auf sie zukam, zu verarbeiten. So hörte sie aus Herberts Entgegnung vor allem den falschen Ton heraus, er reizte sie und zwang sie, eine Banalität von sich zu geben, die sie sich und den anderen bei voller Überlegung sicherlich erspart hätte. „Vorschriften!“ rief sie. „Wer alle Vorschriften beachten will, kommt nicht zum Forschen!“
    Gewohnheitsgemäß blickte sie sich, Zustimmung fordernd, im Kreise um – und sah Fred Hoffmeister in die Augen. Und über diese Brücke, über die paar Sätze, die sie vor wenigen Minuten miteinander gewechselt hatten, kam die Erkenntnis auf sie zu, um die sie sich die ganze Zeit bemüht hatte: die Erkenntnis ihrer moralischen Verantwortung. Sie zuckte zusammen und verbarg das Gesicht in den Händen.
    Herbert empfand ein unklares Schuldgefühl. Er hatte Wiebke über den Schock hinweghelfen wollen. Statt dessen hatte er sie nun soweit gebracht, daß sie solchen Unsinn verzapfte. Und nun? Was taten die anderen? Professor Novak kramte in einem Brutschrank. Onkel Richard putzte hingebungsvoll seine Brille, hauchte sie an, putzte wieder. Und Fred? Was dachte Fred?
    Fred Hoffmeister, den Herberts Eröffnungen von allen am tiefsten angingen, nahm kaum etwas von dem wahr, was um ihn herum passierte. In den letzten Tagen und Stunden hatte ihn ein Gefühl ergriffen, das er vorher noch nicht gekannt hatte: der ganz persönliche Haß auf den unbekannten Schuldigen an der Katastrophe, die seine Familie bedrohte. Nein, er hatte sich diesen Unbekannten nicht irgendwie vorgestellt, ihn nicht in Gedanken mit abstoßenden Zügen ausgestattet, um ihn desto besser hassen zu können, dazu war er zu

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