Das Rätsel Sigma
nüchtern und zu diszipliniert. Er hatte auch keine Pläne gemacht, was er tun würde, wenn er ihm gegenüberstünde, hatte keine privaten Rachegelüste aufkommen lassen, das lag seiner Erziehung und Lebenshaltung ebenso fern. Und trotzdem wurde er mit der jetzt entstandenen Situation innerlich nicht fertig. Eine Frau…, die Frau seines Freundes…; ein gewöhnlicher Fehler, im Interesse der Arbeit begangen, eigentlich nicht einmal ein Fehler… Er spürte, daß das zuviel für ihn war. Sein Beruf hatte ihn gelehrt, aus mehr oder weniger überraschenden Situationen schnell Konsequenzen zu ziehen und entsprechend zu handeln. Hier war er nicht dazu in der Lage. Es gab nichts zu handeln. Er schaffte es nicht einmal, sich auf die Lage einzustellen, eine bestimmte Haltung einzunehmen, irgend eine, selbst wenn sie falsch sein sollte – es ging über seine Kraft. Er fühlte sich dumpf und leer.
Als das Schweigen unerträglich wurde, setzte Dr. Willenius entschlossen seine Brille auf und sagte: „Nun hört mal alle zu. Die moralische Seite kann später erledigt werden, wichtiger ist erst mal die medizinische. Ich schätze, daß die reale Vergiftung bedeutungsvoller ist als die verschiedenen seelischen Wehwehchen. Was ist augenblicklich das Entscheidende? Soweit ich weiß, die Beschaffung des Toxins. Nach Lage der Dinge kann uns niemand dabei besser helfen als Wiebke. Hab ich recht, Spejbl?“
Professor Novak drehte sich um. Er hatte ein Reagenzglas in der Hand. „Im großen und ganzen, ja“, sagte er.
„Und im kleinen und teilweise?“ fragte Dr. Willenius. Der Professor schüttelte das Reagenzglas. „Siehst du was?“
„Nee.“
„Ich habe vor einer halben Stunde die Bakterien, die uns unser Freund hier hat schicken lassen, mit denen aus der Plastvermüllung versetzt, die seine Frau mitgebracht hat. Eben habe ich sie aus dem Brutschrank genommen, einen Aufguß in dieses Reagenzglas getan und den Indikator für das Toxin dazugegeben. Wie du siehst, ist kein Toxin entstanden.“
„Vor einer halben Stunde war ich ja noch gar nicht hier!“ rief Herbert verwundert. „Sie haben also gewußt…?“
„Vermutet, junger Mann. Und das war nicht schwer zu vermuten. Immerhin bin ich Bakteriologe. Sie schicken mir da Bakterien, die auf dem Feld fehlten. Gut. Ihre Frau bringt auch Bakterien, die haben eine ganz ähnliche MBK-Nummer. Ich erkundige mich und erfahre, daß die Plastfresser seinerzeit aus ebendiesen anderen Bakterien durch Mutation entwickelt wurden. Dann entdecken wir Bakteriophagen, nach einem Vorschlag Ihrer Frau Sigma-Phagen benannt. Liegt da eine solche Vermutung nicht auf der Hand? Muß man sie nicht sofort prüfen?“
Hier war etwas Reales, etwas, das versprach, die Untersuchung vorwärtszubringen. Die seelische Verkrampfung löste sich, auch Fred kam langsam zu sich und begann mitzudenken.
„Ich verstehe nicht“, sagte er, „die Prüfung ist doch negativ ausgefallen?“
„Wie ich Professor Novak kenne, hat er bereits eine Hypothese zur Hand!“ meinte Dr. Willenius.
Der Professor nickte. „Hören Sie mir bitte zu und überlegen Sie mit mir, wo wir einen praktischen Ansatzpunkt finden.
Erster Vorgang: Aus den Milchsäurebakterien werden die Plastfresser gezüchtet. Dabei verändern sich einige Gene, vor allem solche, die den Stoffwechsel betreffen. Folglich müssen sich auch bei den Phagen mindestens die Hüllenproteine ändern, denn sie treten ja, nachdem sie einmal ein Bakterium zerstört haben, an die anderen von außen heran. Sie sind also nicht mehr fähig, in ihr ursprüngliches Wirtsbakterium, das Milchsäurebakterium, einzudringen. Dieses Reagenzglas beweist es.
Zweiter Vorgang: In der Plastvermüllung vermehren sich die Phagen, wobei gleichgültig ist, ob sie dort erst entstanden sind oder bereits bei der Züchtung und Vermehrung der Plastfresser. Beweis: Beobachtung am E-Mikroskop und Berichte über den Störfaktor.
Dritter Vorgang: Die Explosion. Und das sind jetzt freilich Vermutungen. Die Explosion zerreißt die Bakterien, aber in einzelnen Fällen ist ihre Wirkung entweder zu schwach oder zu kurzzeitig, um auch die Phagen zu zerstören, sie setzt sie nur frei und greift ihre Hüllenproteine an. In einigen Fällen – tausend oder zehntausend – entstehen dabei die alten Hüllenproteine wieder, die Phagen können ihre ursprünglichen Wirtsbakterien wieder angreifen, anscheinend sogar noch wirksamer. Vom Wind fortgetragen, gelangen sie auf das Feld.
Dort setzt der vierte
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