Das Rätsel Sigma
erwogen, daß das Unheil dieser Art sein könnte: daß einer von ihnen eine schwere Schuld auf sich laden würde, sei es auch nur durch Fahrlässigkeit. Diese Situation war niemals vorbedacht worden, nie in Gedanken durchgespielt wie, sagen wir, die möglichen Folgen eines Verkehrsunfalls oder ähnliches, gegen das man sich versichern kann, wogegen man Vorsorge treffen kann und muß.
Nein, dieser Keulenschlag traf ihn unvorbereitet. Es gab keine Regeln, Richtlinien, Erfahrungen, an die er sich halten konnte. Zwei Dinge waren freilich so selbstverständlich wie unantastbar: seine Liebe und seine Pflichterfüllung. Er mußte flüchtig lächeln bei dem Gedanken, in welchen Konflikt ihn diese Situation gebracht hätte, wenn er hundert oder auch nur fünfzig Jahre früher geboren worden wäre. Es war ein abseitiger Gedanke, gewiß, aber wenn man in einer schwierigen Situation ein sinnvolles Verhalten sucht, kramt man da nur in der eigenen individuellen Erfahrung oder zieht man nicht vielmehr die verallgemeinerte Erfahrung der Menschheit zu Rate, wie sie in Kunst und Literatur niedergelegt ist?
Das einzige, woran er sich im Augenblick klammern konnte, war das, was er sowieso tun mußte: weiter untersuchen, weiter klären. Er war sogar in gewisser Weise erleichtert, daß er nicht sofort Wiebke gegenübertreten konnte, so rat- und hilflos, wie er war. Direktor Uhl hatte schon gedacht, Wiebke käme mit dem Hubschrauber zurück, er war, wie er sagte, bei dieser seiner Mitarbeiterin immer auf alles gefaßt; aber auf das, was Herbert ihm dann eröffnete, war er natürlich genausowenig vorbereitet. Im Unterschied zu Herbert nahm er aber den Sachverhalt nicht als gegeben hin. Er fragte nach Beweisen.
Herbert schilderte erregt die Kette von Zusammenhängen, die ihn hierhergeführt hatte.
Der Direktor zauberte mit ein paar Knopfdrucken zwei Zahlen auf den Videoschirm. „Die Maximalwerte von Druck und Temperatur, die bei der Explosion im Autoklaven gemessen wurden“, sagte er. „Nichts Lebendes übersteht solche Verhältnisse.“
Herbert wollte widersprechen, aber in diesem Augenblick kam der Anruf aus dem Kreiskrankenhaus Neuenwalde. Für einen winzigen Moment war er unentschlossen, ob er seine neuesten Erkenntnisse sofort weitergeben sollte. Die Einwände des Direktors hatten ihn zwar nicht von seiner Überzeugung abgebracht, aber sie hatten ihn doch beeindruckt. Oder war es Rücksicht auf Wiebke, die ihn zögern ließ? Nein, er mußte hier erst Klarheit schaffen, und das war unabhängig davon, ob es sich um Wiebke Lehmann oder wen sonst immer handelte. Er mußte mit dem Direktor zu einem Ergebnis kommen. Das war dann mitteilbar.
„Wollen Sie mir helfen, nach Beweisen zu suchen?“ fragte er, als er den Hörer aufgelegt hatte.
„Ich werde mit dem gleichen Eifer nach Beweisen wie nach Gegenbeweisen suchen“, sagte Direktor Uhl, „so, wie es sich für einen Wissenschaftler gehört.“
„Gut, dann fangen wir gleich an. Welche MBK-Nummer haben die Bakterien, die Sie verwenden?“
Der Direktor blickte überrascht auf. „Da muß ich nachsehen!“ sagte er und tippte. Eine Aktenseite erschien auf dem Bildschirm. Er tippte noch einmal, die nächste Seite erschien. Da stand die Nummer: MBK 531-5721-33-2.
„Und auf 32-9 enden die Bakterien, die auf dem Futterschlag fehlen“, sagte Herbert. „Ist das auch ein Zufall? Sollte da nicht der gleiche Faktor wirksam sein, der auch Ihre Bakterien stört?“ Die Tür öffnete sich, K. O. steckte den Kopf herein.
„Komm rein“, sagte der Direktor, „setz dich!“ Und zu Herbert gewandt fügte er hinzu: „Ich habe K. O. gerufen, damit er uns helfen kann. Sie sind doch einverstanden?“
Herbert begrüßte Wiebkes Mitarbeiter und erklärte ihm, worum es ging.
„Verdammte Kiste“, sagte K. O. und kratzte sich den Kopf. „Wenn dir das hilft – gestern haben wir herausgekriegt, daß der Störfaktor in den neugelieferten Bakterien nicht enthalten ist – nur in unserer Schwemme.“
„Und mit was für Bakterien wurde das Experiment am vorigen Donnerstag ausgeführt?“ fragte Herbert gespannt.
„Aus Sparsamkeitsgründen haben wir für unsere Experimente eigene Kulturen gezüchtet, die wir aus der Schwemme genommen haben“, gestand K. O. „Es scheint, das war Sparsamkeit am falschen Platz.“
„Daraus kann kein Mensch einen Vorwurf herleiten“, entgegnete Herbert. „Aber was ist mit den Schutzbestimmungen?“
„Mikrobiologisches Material darf nicht an die Außenwelt
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