Das Raetsel von Flatey
L.«
Vierundfünfzig
Beim Abendessen im Haus des Gemeindevorstehers herrschte
gedrückte Stimmung. Grímur, Högni und
Ingibjörg saßen über gebratenen
Dreizehenmöweneiern, Papageitaucherbrüstchen und in
Zucker gebräunten Kartoffeln. Es stand mehr als genug zu essen
auf dem Tisch, denn Ingibjörg hatte auch mit Kjartan und den
beiden Polizisten gerechnet. Aber die befanden sich an Bord des
Küstenwachboots und würden dort den Abend verbringen,
wahrscheinlich auch die Nacht. Björn Snorris Beerdigung war
für elf Uhr am nächsten Morgen anberaumt, und
anschließend sollte das Schiff noch vor dem Mittagessen
ablegen. Jóhanna und Kjartan mussten zu weiteren
Vernehmungen mitkommen. Die Kriminalbeamten waren davon
überzeugt, dass die beiden für den Tod von Bryngeir
verantwortlich waren und dass das Ableben von Professor Lund auf
Jóhannas Konto ging.
»Es kommt gar nicht in
Betracht, dass Kjartan und Jóhanna etwas mit diesen
Verrücktheiten zu tun haben«, sagte Ingibjörg
resolut. »Ich kenne meine Leute, und ich sehe es ihnen an den
Augen an, wenn sie die Wahrheit sagen.«
Grímur war verwirrt. »Es
ist aber trotzdem alles so mysteriös. Jeder Inselbewohner hat
ausgesagt, was er in der Nacht gemacht habe, und nur die beiden
waren auf den Beinen. Nicht, dass ich Jóhanna irgendeine
Schlechtigkeit zutraue, und Kjartan ist ebenfalls ein ordentlicher
Mensch, auch wenn er als junger Mann in diesen tragischen Unfall
verwickelt war.«
Högni hatte gerade den Mund
voll. Das war ein Essen, wie er es liebte.
»Mmh, vielleicht haben sie ihn
ja tot aufgefunden und ihn dann im Unverstand so
zugerichtet«, sagte er.
»Nein, nein, nein«, sagte
Ingibjörg. »Nicht meine
Jóhanna.«
Sie beendeten das Essen und tranken
anschließend Kaffee. Es hatte aufgehört zu regnen, und
im Westen brach die Abendsonne durch. Grímur war irgendwie
unruhig. Schließlich sagte er zu Högni: »Komm mit
auf einen Spaziergang. Draußen in der frischen Abendluft kann
ich besser nachdenken. Bei der Gelegenheit können wir auch
noch den Kühen Wasser für die Nacht
geben.«
Die Männer gingen hinaus und am
Hang entlang. Kormákur Kolk trug Wasser zu seinem Kuhstall.
Er antwortete nicht, als sie Guten Abend sagten, sondern verschwand
mit seinen Wassereimern hinter der
Kuhstalltür.
»Alle scheinen heute Abend in
gedrückter Stimmung zu sein«, sagte Grímur. Er
schaute sich um. »Hier war es, wo Bryngeir zum letzten Mal
lebend gesehen wurde«, sagte er ratlos. »Und von hier
aus wollte er ans Ende der Insel und Jóhanna einen Besuch
abstatten. Welchen Weg hat er wohl
genommen?«
Högni antwortete: »Na, er
ist wohl einfach zur Straße rüber, und dann ist er die
Straße entlanggegangen. Ich bin das heute mit diesem
Lúkas abgeschritten, er hat die Zeit genommen und die
Entfernung gemessen. Es waren ungefähr sechshundert
Schritte.«
Eine von Kolks Kühen muhte laut
im Stall.
Grímur sagte: »Ja, der
Weg ist schnell zurückgelegt. Aber was hat der Mann gemacht,
als Jóhanna nicht zu Hause war?«
Högni dachte nach. »Kolk
sagt, dass er jemanden finden wollte, der ihn nach
Stykkishólmur bringen würde.«
»Aber keiner der Bootsbesitzer
kann sich erinnern, dass er an dem Abend um diesen Transport
gebeten hat.«
Högni dachte immer noch nach.
»Vielleicht ist er ja nach Endenkate gegangen und hat Valdi
gefragt. Er hatte es ja schon vorher bei ihm versucht«, sagte
er.
Grímur ging los und sagte:
»Aber denk daran, der arme Kerl ist ertrunken, bevor er
aufgeschnitten wurde. Und zwar nicht in Salzwasser. Auf den Felsen
rings um Endenkate ist kein Tropfen Wasser weit und
breit.«
»Nein, nur in der Wassertonne
auf dem Hofplatz bei Valdi.«
»Willst du damit sagen, dass
Valdi den Kerl beim Schlafittchen gepackt und ihn in der
Wassertonne ertränkt hat wie eine junge
Katze?«
»Nein.« Högni war
ratlos. »Aber Valdi kann manchmal
aufbrausen.«
»Und weswegen sollte er
anschließend die Leiche auf den Friedhof gebracht
haben?«
»Das weiß ich
nicht«, erklärte Högni und war nicht damit
einverstanden, in dieser Diskussion in die Rolle des Anklägers
gedrängt worden zu sein.
»Schlendern wir doch einfach
mal ans Ende der Insel und hören, was die Herrschaften dort
heute Abend zu sagen haben«, sagte Grímur. Sie gingen
schweigend die Straße unterhalb des Friedhofs entlang, und
jeder dachte das Seine. Im Arzthaus brannte kein Licht, aber als
sie zur Brücke kamen, sahen sie, dass das Küstenwachboot
hell erleuchtet war.
Weitere Kostenlose Bücher