Das Raetsel von Flatey
die
Großmächte betrifft. Aber hier in Island solltest du die
Bauernpartei wählen«, sagte er zu Kjartan. »Junge
Männer tendieren leider zu den Sozialisten, wenn sie nicht
beizeiten von ihren Irrpfaden abgebracht werden. Aber noch
schlimmer sind natürlich die
Konservativen.«
Högni grinste und zwinkerte
Kjartan heimlich zu.
»Irgendwie kommt es mir so vor,
als würde Chruschtschow auch zur Bauernpartei gehören. Es
gibt ja auch gar keine richtigen Kommunisten mehr, seitdem Genosse
Stalin ins Gras beißen musste.«
»Hör nicht auf ihn, der
tut nur so als ob«, sagte Grímur zu Kjartan.
»Ich kenne keinen eingeschworeneren Anhänger der
Bauernpartei als Högni. Er hat es bloß selber noch nicht
gemerkt. So geht es vielen, die sich dazu hinreißen lassen,
eine andere Partei zu wählen. Sieh zu, dass dir das nicht
passiert, lieber Freund.«
Damit endete die politische Debatte,
und die Männer traten mit heißem Kaffee in den
Gläsern aus dem Haus.
Die Sonne senkte sich über dem
westlichen Himmel. Es war kühl.
»Wie lange der Mann da auf der
Insel wohl noch gelebt hat?«, fragte
Kjartan.
»Schwer zu sagen«,
erwiderte Grímur. »Vielleicht ein paar
Tage.«
Högni trank einen Schluck Kaffee
und warf ein: »Da gab es mal eine alte Schachtel, die auf
einer ziemlich abgelegenen Insel im Inneren des
Breiðafjörður ihre Schafe versorgte, die über den
Winter dort gehalten wurden. Sie hatte einen Knecht und eine Magd
dabei. Dem Mann war der Tabak ausgegangen, und das Mädchen
hatte ein Verhältnis mit einem Burschen auf dem Festland. Sie
wollten Heimurlaub bekommen, aber den kriegten sie erst, als sie
die Alte ausgetrickst hatten, indem sie das Feuer in der Hütte
ausgehen ließen. Da musste sie sie an Land schicken, um Feuer
zu holen. Während der Nacht kam aber ein Nordsturm auf, die
Temperaturen sanken so tief unter den Gefrierpunkt, dass ganze acht
Wochen lang keine Möglichkeit bestand, zu der alten Frau auf
die Insel zu kommen. Irgendetwas hat sie wohl da zu essen gefunden,
in rohem Zustand natürlich, und ein bisschen Wärme hat
sie bei den Tieren gefunden, aber seit diesem Erlebnis galt sie als
wunderlich.«
Högni schaute Kjartan
nachdenklich an.
»Der Mann auf Ketilsey hatte
nichts zu essen und nichts, um sich zu wärmen«, sagte
Kjartan.
Grímur antwortete mit ernster
Miene: »Da hast du Recht, mein Lieber. Da kann man nur
hoffen, dass der Ärmste sich nicht lange hat quälen
müssen.«
Sie gingen wieder ins Haus, und der
Gemeindevorsteher zeigte Kjartan eine alte Schreibmaschine, die auf
einem kleinen Sekretär im Wohnzimmer stand. Sie schien
einigermaßen funktionsfähig zu sein, und Kjartan spannte
zwei Blätter mit Durchschlagpapier dazwischen ein. Im Geiste
rekapitulierte er das, was die Ärztin gesagt hatte, und dann
begann er, den Text einzutippen. Er war geübt im
Maschineschreiben, und es fiel ihm nicht sonderlich schwer zu
formulieren. Der Anfang lautete folgendermaßen:
»Bekanntmachung an die Einwohner von Flatey. Auf Ketilsey
wurden die sterblichen Überreste eines Mannes
gefunden.«
Als die Beschreibung der Kleidung zu
Papier gebracht war, fügte er die Worte von Jón
Finnsson hinzu, die auf dem Papier in der Jackentasche gestanden
hatten. Zum Schluss schrieb er: »Diejenigen, die imstande
sind, Informationen darüber zu geben, wie dieser Mann nach
Ketilsey gekommen ist, oder davon gehört haben, dass ein Mann
vermisst wird, werden gebeten, sich mit Elliðagrímur
Einarsson, Gemeindevorsteher von Flatey, in Verbindung zu
setzen.«
*
... Die Personen in den
Erzählungen von Flateyjarbók sind alles andere als nach
meinem Geschmack. Wenn das alles so stimmt, wie es da steht,
handelte es sich in der Mehrzahl um Rabauken der schlimmsten Sorte,
es gibt nur wenige anständige Charaktere. Die Methoden, die
Olaf Tryggvason und Olaf Haraldsson bei der Christianisierung
Norwegens angewendet haben, gereichen diesem Glauben nicht zur
Ehre. Und es lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die
Raubzüge der Wikinger die Ausbreitung von Zivilisation und
Kultur in Nordeuropa um Jahrhunderte verzögert haben. Da
bewundere ich die isländischen Chronisten, die Leute, die alle
diese Erzählungen von Generation zu Generation weitergegeben
haben, erst mündlich und dann in einer primitiven
Schriftsprache von einem Pergamentblatt auf das andere. In
Flateyjarbók findet man unzählige geflügelte Worte
und Redewendungen, die auch heute noch in der Sprache lebendig sind
und
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