Das Raetsel von Flatey
anfällt. Er
besitzt zwei Kühe und macht Heu für sie auf einer kleinen
Wiese, die an meine Wiese angrenzt. Die Milch kann er verkaufen. Im
Herbst arbeitet er auch im Schlachthaus, und außerdem hat er
das Nutzungsrecht für einige kleinere Inseln nördlich von
Flatey. Dieses Recht hat er aber anderen übertragen, und die
Pacht dafür bekommt er in Eiderdaunen ausbezahlt. Er hat in
jungen Jahren einmal ein traumatisches Erlebnis gehabt und seitdem
eine panische Angst vor dem Meer.« Grímur blickte auf
die Kirchentür. »Und er ist außerdem furchtbar
abergläubisch.«
»Was war das für ein
Erlebnis?«, fragte Kjartan.
Grímur antwortete:
»Unser guter Kolk ist hier bei einem Bauern auf der Insel
aufgewachsen. Er galt lange Zeit als ziemlich unleidlicher Junge
und hatte außerdem angefangen zu trinken. Der Bauer
beschloss, ihm eine gründliche Lehre zu erteilen. Als sie
einmal mit dem Boot unterwegs waren, schickte er ihn zu einer
Schäre hinaus, um einen jungen Seehund zu fangen. Aber dann
warteten sie nicht auf den Jungen, sondern ließen ihn
zurück, um unterdessen die Netze auszulegen. Als sie wieder
zurückkamen, war die Schäre überflutet, und das
Wasser reichte dem Jungen, der immer noch dort stand, bis zum
Kinn.«
Högni warf ein: »Seitdem
stellt er sich auch ständig auf die
Zehenspitzen.«
Grímur fuhr fort:
»Danach war der Bursche lammfromm, aber er hat sich seitdem
nie wieder aufs Meer getraut. Aber Schnaps trinkt er immer noch,
wenn ihm jemand was anbietet.«
»Verlässt er die Insel
wirklich nie?«, fragte Kjartan.
Die Männer schauten einander
nachdenklich an.
»Nein, ich kann mich nicht
daran erinnern, dass er jemals irgendwo hingefahren ist«,
antwortete Grímur. »Seine Frau Guðríður
war häufiger unterwegs. Bevor ihr das Bein so zu schaffen
machte, fuhr sie sogar bis nach Reykjavík, um ihre Tochter
zu besuchen.«
Kjartan ging zu einem anderen Thema
über: »Aber was machen wir jetzt? Der Tote trägt
nichts bei sich, was einen Hinweis darauf gibt, wer er ist. Uns ist
nicht bekannt, dass irgendjemand vermisst
wird.«
Grímur kratzte sich am Bart.
»Wir können den Mann beschreiben. Ich meine,
beschreiben, wie er gekleidet war. Dann hängen wir einen
Zettel an die Tür vom Genossenschaftsladen. Das ist ein
Treffpunkt für die Inselbewohner, und vielleicht meldet sich
ja jemand. Wir können uns auch per Funkradio mit den inneren
Inseln in Verbindung setzen und uns erkundigen, ob sich die Bauern
dort an so einen Reisenden erinnern
können.«
»Wo gibt es hier eine
Schreibmaschine, auf der ich das niederschreiben
kann?«
»Die Gemeinde besitzt eine
Schreibmaschine. Sie steht bei mir zu Hause. Gehen wir doch einfach
nach Hause. Ich habe das Gefühl, dass ich schon wieder hungrig
bin.«
Sie gingen los, den Hang hinunter.
Kjartan überlegte immer noch, wie es weitergehen
sollte.
»Der Bezirksamtmann sprach
davon, die Leiche mit dem Postschiff am Samstag nach
Reykjavík zu schicken. Aber wie kommt das Ding von
Stykkishólmur weiter nach Reykjavík? Muss da nicht
jemand zur Begleitung mit?«, fragte er.
»Das ist wahrscheinlich nicht
erforderlich. Die Kiste wird mit dem Linienbus weitertransportiert,
wenn Platz ist. Sonst mit dem Lastwagen, der der Genossenschaft
gehört. Der Polizist in Stykkishólmur wird sich schon
darum kümmern«, antwortete
Grímur.
Kjartan nickte. »Das ist
wahrscheinlich die beste Lösung. Morgen spreche ich auch mit
dem Bezirksamtmann über weitere Maßnahmen«, sagte
er.
Ingibjörg empfing sie mit einem
fertigen Abendessen. Gekochte Papageitaucherbrust mit Kartoffeln
und zerlassener Butter. Im Esszimmer war wieder für drei
gedeckt, und die Hausfrau setzte sich ebenso wenig wie beim
Mittagessen mit an den Tisch. Die Mahlzeit verlief diesmal
schweigend, denn es war acht Uhr, und im Radio wurden die
Abendnachrichten gesendet. Der Sprecher verlas eine Nachricht
über neue Abrüstungsvorschläge des sowjetischen
Parteichefs Chruschtschow. Dann ging es um Parlamentssitzungen, die
sich wegen der bevorstehenden Sommerpause des Allthings bis tief in
die Nacht hineinzogen.
Kjartan hatte wieder Appetit und
langte ordentlich zu. Er hatte zwar noch nie Papageitaucher
gegessen, aber dieses Essen mundete ihm wesentlich besser als das
Seehundfleisch zu Mittag. Die Nachrichten waren zu Ende, und
Grímur schaltete das Radio
ab.
»So ist das mit der
Politik«, kommentierte er. »Am besten hält man
sich da raus, jedenfalls was die große weite Welt und
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