Das Raetsel von Flatey
Bibel an der Stelle, wo
sich ein Lesezeichen befand. Er las laut einen Abschnitt aus dem
vierten Buch Mose vor, während seine Frau den Kaffee aufgoss.
Dann schloss er die Bibel wieder und nahm sich den zweiten Band von
Flateyjarbók vor. Er schlug bei einem Lesezeichen auf, das
sich mitten in der Saga von den Schwurbrüdern befand, und
während sie den Kaffee tranken, las er einen langen Abschnitt
aus der Saga über die Schwurbrüder. Nach dieser Lesung
schlug er die Bücher wieder in derselben Weise ein, wie er sie
ausgepackt hatte. Dann verließ er das Haus, um sein Tagewerk
zu vollenden. Er musste die Tiere für die Nacht
versorgen.
Nachdem Kormákur Kolk die
Kühe von der Weide geholt hatte, melkte er sie im Stall. Der
kleine Nonni kam, um den halben Liter Milch zu holen, den die
Männer von Endenkate ihm jeden Tag abkauften, und Högni,
der vom Haus des Gemeindevorstehers auf dem Weg zur Schule war,
begrüßte ihn, und sie sprachen eine Weile miteinander.
Anschließend holte Kormákur Kolk einige Eimer Wasser
aus dem Stallbrunnen und füllte die Tröge bei den
Kühen. Dann ordnete er alles für die Nacht. Die Uhr ging
schon auf zwölf zu, als er sich endlich zur Ruhe begeben
konnte.
*
... Flateyjarbók ist,
soweit man weiß, die größte Pergamenthandschrift,
die auf Island geschrieben worden ist. Sie umfasst insgesamt 225
Blätter, das bedeutet, 450 Seiten. Das Format ist so
groß, dass von jeder Kalbshaut nur zwei Bögen gewonnen
werden konnten, und deswegen sind insgesamt 113 Häute für
das Buch verwendet worden, 101 davon für den Hauptteil, der in
Víðidalstunga geschrieben wurde, und dann noch 12
für den Anhang, der in Reykhólar etwa neun Jahrzehnte
später entstand. Dieses Zweibogenformat wird Folio genannt.
Wenn man eine Pergamenthaut in vier Teile faltet, heißt das
Quarto. Die Blätter sind im Schnitt 42 cm hoch und 29 cm breit
...
... Es ist enorm viel Arbeit
gewesen, die Tierhäute für Flateyjarbók
herzustellen, zu gerben, zu enthaaren und zu schaben, bis daraus
ein verwendbares Pergament wurde. Zweifellos ist die Herstellung
des Buches die Arbeit vieler Hände gewesen. Es gibt keine
Berichte über den Herstellungsprozess, und deswegen ist die
genaue Methode unbekannt. Die Verfahren waren aber vermutlich
ähnlich wie in Mitteleuropa, nur hat man hier wahrscheinlich
weniger Kalk verwendet ...
Neun
Freitag, 3. Juni
1960
Kjartan wachte vom wiederholten
Kikeriki eines Hahns auf, der irgendwo im Ort krähte. Er
brauchte eine ganze Weile, um sich darüber klar zu werden, wo
er sich eigentlich befand und was für ein Geräusch das
war. Das Bett stand unter der Dachschräge, und an der Wand
gegenüber dem Kopfende war ein farbiges Foto mit
Reißzwecken an die Wand geheftet. Das Bild war wahrscheinlich
in einem norwegischen Fjord aufgenommen worden und zeigte ein
großes, modernes Passagierschiff auf dem Wasser und dahinter
hohe, waldbewachsene Hänge.
Wieder hörte er den Hahn
krähen und wusste, dass es Zeit war, aufzustehen. Das
Gefühl der Beklemmung, das ihn jetzt befiel, kannte er nur zu
gut, denn es überkam ihn manchmal frühmorgens, besonders
wenn er sich einer ungewohnten Situation gegenübersah. Er biss
die Zähne zusammen und versuchte, dieses Gefühl von sich
abzuschütteln. Er litt stark darunter, schüchtern und
menschenscheu zu sein, und deswegen versuchte er, so gut es ging,
Situationen zu vermeiden, wo er es mit vielen unbekannten Menschen
zu tun hatte. Und jetzt hatte er ausgerechnet so einen Auftrag
bekommen, bei dem er immer wieder mit neuen Personen konfrontiert
wurde, ohne Einfluss darauf nehmen zu
können.
Drei fette Schmeißfliegen
brummten innen an der Fensterscheibe beim Kopfende des Betts. Er
richtete sich im Bett auf und schaute aus dem Fenster. Zwei Kinder
scheuchten ein schwarzes Mutterschaf mitsamt seinem Lamm aus einer
Heuwiese etwas weiter westlich auf der Insel. Weil es so still war,
konnte man die Rufe hören, als das Schaf ihnen wieder
entgegenkam und sich keineswegs wegtreiben lassen wollte.
Draußen schien die Sonne, und der Himmel war
wolkenlos.
Kjartan zog sich an und kletterte die
fast senkrechte Treppe vom Dachgeschoss hinab. Aus der Küche
roch es durchdringend nach Kaffee. Vor dem Haus war die Hausfrau
damit beschäftigt, Wäsche auf die Leine zu hängen.
Sie trug wieder ihre Tracht, aber diesmal mit einer geblümten
Schürze. Ein kleines Mädchen, etwa acht Jahre alt, stand
neben ihr und reichte ihr die Wäscheklammern,
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