Das Raetsel von Flatey
der Reisetasche in der Hand die hohle Gasse
hinaufschritt. Er machte sich so früh auf den Weg, weil er
noch bei Jóhanna vorbeischauen wollte, um sich ein Mittel
gegen Seekrankheit geben zu lassen. Er hatte Angst vor der
Überfahrt, denn das Wetter hatte sich
verschlechtert.«
Er blickte schweigend aus dem Fenster
und sagte dann leise wie zu sich selbst: »Wie um alles in der
Welt ist er bloß nach Ketilsey
gelangt?«
*
... Die Schrift des Mittelalters
war die lateinische karolingische Schrift, die von Norwegen oder
England nach Island kam, aber mit einigen Erweiterungen, um den
nordischen Bedürfnissen angepasst zu werden. Die langen Vokale
wurden mit Strichen gekennzeichnet, und neue Buchstaben kamen
hinzu. Aus dem Englischen kamen die Buchstaben Þ und ð
...
... Die Schrift von
Flateyjarbók trägt die persönlichen Merkmale ihrer
Schreiber Jón und Magnús. Von Jón stammt der
größte Teil der ersten Hälfte und von Magnús
die zweite. Und man kann noch mehr herauslesen. Ein Unbekannter mit
einer sehr viel schlechteren Schrift hat an vier Stellen zur Feder
gegriffen, und zwar im ersten Teil. Wahrscheinlich hat er das
gemacht, während Jón seine Feder spitzte, denn
Jóns Schrift ist immer nach dieser unbekannten Handschrift
etwas dünner als vorher. Das ist aber wohl kaum irgendein
Kuhhirte gewesen, der heimlich mal probieren wollte, wie man auf
Pergament schreibt. Das hätte der Priester nie zugelassen.
Wahrscheinlich war es eher jemand, dem der Priester unterstand,
vielleicht sogar der Auftraggeber selber? Meines Erachtens
käme das durchaus in Frage ...
... Die Schrift von Magnús
Þórhallsson und seine Illuminierungen in
Flateyjarbók gehören zum Schönsten, was
isländische Mittelalterhandschriften zu bieten haben. Man kann
davon ausgehen, dass dieser Künstler ein sehr gesuchter
Schreiber war und zahlreiche Handschriften aus seiner Feder
stammen. Er ist in guter Übung gewesen, als ihm
Flateyjarbók übertragen wurde. Trotzdem sind von seiner
Schrift und Bearbeitungsweise nur ein paar Worte in zwei anderen
Manuskripten erhalten. Man muss also davon ausgehen, dass sein
Lebenswerk verloren gegangen ist ...
Zwölf
Als Kjartan vom Telegrafenamt zurückkehrte,
hielt sich der Gemeindevorsteher immer noch bei der Baracke auf.
Grímur saß jetzt auf einer Holzkiste, hatte sich einen
Leinensack übers Knie gelegt und war damit beschäftigt,
mit einem scharfen Messer die Speckschicht von einem Seehundfell
abzuschaben. Vor seinen Füßen stand ein großer
Behälter mit rötlich gefärbtem Seifenwasser, in dem
ein weiteres Seehundfell feucht gehalten wurde. Das dritte war an
die Wand des Schuppens gespannt worden, frisch geschabt und
gesäubert.
Högni war noch am Strand,
zerkleinerte einen Rumpf und warf die Stücke in eine Tonne.
Hin und wieder bekam der Möwenschwarm, der sich am Ufer
versammelt hatte, ein paar Speckbrocken ab. Als er Kjartan
zurückkommen sah, legte er das Fleischmesser zur Seite und
gesellte sich zu ihnen.
»Na, und was für eine
Epistel hat der Herr Pastor heute vom Stapel gelassen?«,
fragte Högni gespannt, setzte sich auf eine rostige Schubkarre
und streckte die Hand nach der Thermoskanne und der Proviantbox
aus.
Kjartan berichtete von seinem
Gespräch mit dem Pastor, während Grímur schweigend
zuhörte und weiter schabte.
Högni sagte: »Kein Wunder,
dass der Herr Pastor einen Schreck bekommt, wenn sich herausstellt,
dass sein Gast nicht heil nach Hause gekommen ist. Der betet
bestimmt heute Abend noch das eine oder andere Vaterunser, der arme
Gottesmann.«
Kjartan fuhr fort: »Ich habe
die dänischen Botschaft in Reykjavík angerufen, und
dort wusste man davon, dass Professor Lund vermisst wird.
Darüber ist in diesem Winter viel in den dänischen
Zeitungen geschrieben worden. Man hat wohl auch monatelang in ganz
Norwegen nach ihm gesucht, aber niemand hatte auch nur den
geringsten Verdacht, dass er nach Island gereist war. Der
Botschaftsrat will sich nähere Informationen aus Dänemark
holen. Dann habe ich mit dem Bezirksamtmann in
Patreksfjörður gesprochen, und er beauftragt uns, weitere
Nachforschungen anzustellen. Die Kriminalpolizei in
Reykjavík ist ebenfalls eingeschaltet worden und wird sich
mit dem Fall befassen, falls wir nicht weiterkommen. Sie versuchen
herauszufinden, was Lund in Reykjavík gemacht
hat.«
Grímur überlegte eine
Weile. »Wir müssen uns mit der Besatzung auf dem
Postschiff in Verbindung setzen. Sie können sich vielleicht an
diesen
Weitere Kostenlose Bücher