Das Raetsel von Flatey
vorher eingesteckt hatte, aus der
Tasche und reichte ihn dem Pastor.
Pastor Hannes nahm den Zettel und
nickte, nachdem er ihn in Augenschein genommen hatte. Er sagte:
»Es verhält sich so, dass ich schon einige Male
früher ausländische Besucher in Empfang genommen habe,
die hier auf den Spuren von Flateyjarbók wandeln wollten.
Deswegen habe ich nach besten Kräften versucht, mich mit der
Geschichte dieser Handschrift vertraut zu machen, und mir eine
eigene Meinung dazu gebildet. Also, es gibt eine Theorie
darüber, die besagt, dass dieser Jón von Flatey sich
mit diesen Worten, die auf dem Zettel stehen, das Buch zugeeignet
hat, um keine Zweifel wegen des Erbrechts aufkommen zu lassen. Ich
bin hingegen der Meinung, dass er diesen Eintrag in die Handschrift
eingefügt hat, als er das Buch einmal nach Skálholt
ausgeliehen hat, und zwar lange bevor Bischof Brynjólfur es
endgültig in die Hände bekam. Und ich bin auch
überzeugt davon, dass Jón Finnsson dem Bischof
Brynjólfur die Handschrift bei seiner Visitationsreise nur
ein weiteres Mal ausleihen wollte und davon ausging, dass er sie
wieder zurückbekommen würde, nachdem sie abgeschrieben
und wissenschaftlich untersucht worden wäre. Er hätte es
nämlich sonst bestimmt vermerkt, wenn er das Buch aus seinem
Besitz gegeben hätte. Man gibt ein solches Werk nicht aus der
Hand, ohne es schriftlich zu dokumentieren, und dazu hätte es
eines neuen Eintrags hinter der Zueignung bedurft. So ist es heute,
und so war es auch schon immer. Also, das alles habe ich dem
Professor dargelegt und dann den Text für ihn auf den Zettel
geschrieben. Unsere Meinungen darüber, ob die Dänen diese
Handschrift an Island zurückgeben sollten, gingen weit
auseinander. Er war ganz und gar dagegen und sammelte sogar gerade
Material für einen Artikel, in dem er diesen seinen Standpunkt
erläutern wollte. Meiner Meinung nach gehört das Buch den
Nachkommen von Jón Finnsson beziehungsweise dem
isländischen Volk.«
Kjartan lauschte diesem Vortrag.
»Aber der Mann muss doch bestimmt in Kopenhagen vermisst
worden sein. Warum hat man denn nicht nach ihm
gesucht?«
»Das ist das, was ich
überhaupt nicht verstehe. Er hat allerdings durchblicken
lassen, dass diese Reise möglichst geheim bleiben sollte und
dass er es vermieden hat, seine isländischen Kollegen oder
andere Bekannte zu treffen. Dieser Handschriftenstreit ist so
heikel, dass er um jeden Preis einer öffentlichen Diskussion
hierzulande aus dem Weg gehen wollte. Professor Lund spielt eine
bedeutende Rolle in den Reihen unserer Gegner. Es ist durchaus
denkbar, dass in Kopenhagen niemand davon wusste, dass er nach
Island reisen wollte. Er ist wohl Junggeselle und stand mit
niemandem in seinem Heimatland in Verbindung, während er hier
in Island unterwegs
war.«
»Konnte er
Isländisch?«, fragte Kjartan.
»Ja, schon. Er verstand
ziemlich gut, er las alles und konnte auch ganz ordentlich
schreiben. Aber wenn er selber sprach, klang das so komisch wie bei
den meisten Dänen, aber trotzdem hat er sich auf dieser Reise
einigermaßen gut verständlich machen
können.«
»Was ist das für eine
Denksportaufgabe, von der Sie vorhin gesprochen haben?«,
fragte Kjartan.
»Sie wird Ænigma
Flateyensis genannt und ist in gewisser Hinsicht so etwas
Ähnliches wie ein Kreuzworträtsel. Sie kam mit der
Faksimile-Ausgabe von Flateyjarbók auf die Insel, die der
Bibliothek zum hundertjährigen Jubiläum 1936 geschenkt
wurde. Die Blätter liegen immer noch lose in dem Buch, und mit
ihnen ist ein Tabu verbunden, nämlich dass sie das Haus, in
dem sich die Bibliothek befindet, nicht verlassen dürfen.
Genauso wenig darf man den Lösungsschlüssel abschreiben,
mit dem die richtige Lösung erprobt werden kann. Hin und
wieder kommen Gäste hierher, um sich an dieser Aufgabe zu
versuchen. Bislang hat aber noch niemand Erfolg gehabt. Einige
Hinweise sind wohl ziemlich unklar, und der
Lösungsschlüssel ist ganz und gar
unverständlich.«
»Und weswegen hat dieser Mann
sich an der Aufgabe versucht?«
Pastor Hannes lächelte schwach:
»Der Professor gehört oder, richtiger gesagt,
gehörte, einer wissenschaftlichen Gesellschaft in Kopenhagen
an. Die Mitglieder treffen sich einmal in der Woche in dem
berühmten Lokal Det lille Apotek. Sie sind in zwei Gruppen
unterteilt. Diejenigen, die in geisteswissenschaftlichem Bereich
etwas Aufsehen Erregendes geleistet haben, dürfen auf einer
Bank an der Wand sitzen und den Saal
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