Das Raetsel von Flatey
Dalir
aufgewachsen, aber seiner Frau gegenüber hätte er es nie
gewagt zuzugeben, dass er Kuhstallgeruch eigentlich gar nicht
unangenehm fand.
Schließlich bemerkte er:
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Der Bevollmächtigte
scheint ein verlässlicher Mann zu sein. Er weiß
wahrscheinlich, was in dieser Situation am besten zu tun ist. Die
Sache ist überaus ernst.«
Der Pastor trat hinaus und wartete
vor dem Haus, als Kjartan eintraf.
»Sie sind wahrscheinlich
gekommen, um mich zu treffen«, sagte der
Pastor.
»Ja, der Gemeindevorsteher hat
mich geschickt und mich gebeten, Ihrer Frau ein paar Happen
frischen Seehund zu bringen«, erwiderte Kjartan und streckte
den alten weißen Emaileimer vor, der voll von rohem Fleisch
war.
»Seid bedankt
dafür«, erklärte Pastor Hannes und nahm den Eimer
entgegen. »Gesegnet sind die Gaben, die Gott und das Meer
für den Menschen bereithalten.« Dann führte er
Kjartan in das kleine Vorzimmer, wo er seine Schäfchen
empfing, während er den Eimer in eine kleine Vorratskammer
neben dem Eingang stellte.
»Ich bin ziemlich konsterniert,
ja, ziemlich konsterniert!« Pastor Hannes goss Kaffee aus
einer Thermoskanne in zwei kleine Tassen, die auf dem Schreibtisch
bereitstanden.
»Wieso denn das?«, fragte
Kjartan und nahm die eine Tasse entgegen.
»Nun, ich ging vorhin zum
Genossenschaftsladen, und als ich nachschaute, ob die
Ankündigung des Gottesdienstes an ihrem Platz war, sah ich die
Bekanntmachung von Ihrer Behörde.«
»Und?«, sagte
Kjartan.
»Tja, ähem, ich glaube
nämlich, dass ich weiß, wer der Verstorbene
ist.«
»Tatsächlich?«
»Ja, fürwahr. Es kann
nicht anders sein, als dass es sich um den Herrn Professor Lund aus
Kopenhagen handelt.«
»Und woher wissen Sie
das?«
»Dazu muss ich etwas weiter
ausholen. Der Professor kam Anfang September von Reykhólar
nach Flatey herüber, zusammen mit Saisonarbeitern des Sommers,
die in den Fjorden auf dem Festland Beeren gesammelt hatten. Der
Mann überbrachte mir Grüße von Pastor Veigar zu
Reykhólar und fragte bei mir an, ob ich ihm für zwei
Tage Kost und Logis gewähren könne, wozu ich
selbstverständlich bereit war. Der Mann gehörte ja
eindeutig zur besseren Gesellschaft.«
Der Pastor lüftete den Deckel
einer Kuchenplatte und bot Kjartan etwas an.
»Bitte sehr, nehmen Sie sich
doch einen gezuckerten Pfannkuchen.«
»Sie sagten, er sei
Däne?«, fragte Kjartan und nahm sich von dem
Gebäck.
»Ja, ja. Er war Professor an
der Kopenhagener Universität. Er hatte den Sommer damit
verbracht, die Schauplätze von Flateyjarbók zu
bereisen, das heißt, zunächst die Schauplätze der
beiden Sagas von Olaf Haraldsson und Olaf Tryggvason, die sich
natürlich in Norwegen befinden. Danach hatte er sich
kurzerhand zu einer Islandreise entschlossen, wenn ich ihn richtig
verstanden habe. Zuerst ist er nach Skálholt gefahren, dem
Bischofssitz, wo seinerzeit Brynjólfur Sveinsson amtierte.
Von da aus reiste er in den Norden nach Víðidalstunga,
wo die Handschrift nachweislich kompiliert wurde, und
schließlich in die Westfjorde nach Reykhólar, wo sie
eine Zeit lang aufbewahrt wurde. Von dort ließ er sich dann
nach Flatey übersetzen. Es war ihm klar, dass niemand sich
einen Experten in Sachen Flateyjarbók nennen kann, der nicht
den Ort besucht hat, von dem diese Handschrift ihren Namen erhielt.
Außerdem wollte er sich aber an der alten Denksportaufgabe
versuchen, Ænigma Flateyensis, aber darauf komme ich
später zu sprechen. Von hier fuhr er dann direkt nach
Reykjavík, um sein Flugzeug nach Kopenhagen zu erreichen. Er
wurde dort zu einer wichtigen Konferenz wegen des
Handschriftenstreits erwartet, und außerdem begann ja auch
das Semester wieder an der
Universität.«
»Aber wie ist er dann nach
Ketilsey gelangt?«, fragte Kjartan.
»Das ist mir vollkommen
unerklärlich. Er verabschiedete sich von mir, als das
Postschiff erwartet wurde, und er machte sich rechtzeitig auf den
Weg zur neuen Kaianlage am Ende der Insel.«
»Aber wieso sind Sie sich denn
so sicher, dass es sich um diesen Mann
handelt?«
»Schon allein von der Kleidung
her hätte ich ihn identifizieren müssen, aber man tut
sich da vielleicht etwas schwer, wenn man davon überzeugt ist,
dass sich der betreffende Mann in Kopenhagen befindet. Es war dann
allerdings der Zettel mit dieser Abschrift aus Flateyjarbók,
der den Ausschlag gab. Er ist wahrscheinlich von meiner Hand
geschrieben.«
»Wie bitte?« Kjartan zog
den Zettel, den er am Abend
Weitere Kostenlose Bücher