Das Raetsel von Flatey
betitelt ist,
Codex Flateyensis. Derselbe hat auch die Strophen zu Ende
gedichtet, aber niemand hat nachweisen können, dass das die
richtige Lösung ist. Das ist die Geschichte dieses
Rätsels.«
Árni Sakarías nahm den
letzten Happen des Blätterteiggebäcks zu sich und goss
sich Kaffee nach.
»Das Rätsel ist also immer
noch nicht gelöst?«, fragte Dagbjartur.
»Nein, mir ist nichts
dergleichen zu Ohren gekommen.«
»Und es ist nur zu lösen,
indem man nach Flatey fährt?«
»Nur so. Der Lösungscode
ist dort und nirgendwo anders. Die Fragen sind relativ oft
abgeschrieben worden, aber der Code, nämlich diese
Buchstabenreihen, den gibt es nur auf dem Blatt, das in der
Munksgaaard-Ausgabe in der Bibliothek zu Flatey liegt. Wer seine
Lösungen überprüfen will, muss dorthin
fahren.«
»Und warum hat keiner das
einfach abgeschrieben?«
»Das hat man tunlichst
unterlassen. Die zuständigen Betreuer der Bibliothek haben gut
auf das Blatt aufgepasst, und diejenigen, die kommen, um ihre
Antworten zu überprüfen, müssen versprechen, den
Lösungsschlüssel nicht abzuschreiben. Es heißt
nämlich auch, dass demjenigen, der diese Spielregeln bricht,
ein Unglück widerfährt. Das Schicksal des Verfassers und
des jungen Studenten in Kopenhagen haben diesen Glauben
verstärkt. Angeblich liegt ein mächtiger Fluch über
dem Rätsel, der aber nicht zum Tragen kommt, solange sich die
Blätter innerhalb der vier Wände der Bibliothek in Flatey
befinden.«
»Haben sich viele daran
versucht?«
»Nein, das glaube ich nicht.
Aber man weiß, dass manch ein Student, der vor der
Abschlussprüfung im Fach Isländisch steht, nach Flatey
pilgert und sich daran versucht. Man muss sich aber schon
hervorragend auskennen, um sich an einem Lösungsvorschlag zu
versuchen. Das ist nichts für Laien.«
»Und du selber, hast du
probiert, das Rätsel zu lösen?«
»Ich habe es mir nur ein
einziges Mal angeschaut. Das Rätsel besteht eigentlich aus
zwei Aufgaben. Ich habe gesehen, dass man erst den Code in der
vierzigsten Frage knacken muss. Wenn man das nicht schafft, besteht
nicht die geringste Möglichkeit, die Antworten auf die 39
Fragen zu überprüfen. Ich habe mir ein bisschen den Kopf
über diesen Code zerbrochen, aber keine Lösung
gefunden.«
»Und was passiert, wenn jemand
das Rätsel gelöst hat?«
»Was passiert? Nun, eigentlich
gar nichts. Der Sieger wird den Augenblick genießen und
Anerkennung und Bewunderung finden, und die Wissenschaftler werden
ihn beneiden. Ich hoffe bloß, dass es nicht allzu bald
geschieht, denn viele amüsieren sich insgeheim köstlich
über die Anstrengungen von
Möchtegern-Geistesgrößen. Und wer weiß,
vielleicht ist das Rätsel ja auch
unlösbar.«
*
»10. Frage: Eingeweide auf dem
Kirchendach. Erster Buchstabe.
Sie kamen überraschend nach
Fólsknar und töteten Gunnar in seinem Haus. Noch viele
andere Männer fielen. Ivar Korni war oben unter dem
Dachgebälk und entkam durch ein Fenster. Er trug nur eine
Leinenhose und ein Hemd und wollte sich in die Kirche retten, aber
sie war verschlossen. Eine Leiter stand bei der Kirche, und er
kletterte hoch auf das Kirchendach, wo er die Nacht verbrachte. Sie
umzingelten die Kirche und bewachten sie bis zum Morgen. Da war
Ivar halb tot vor Kälte und bat um Schonung, aber die wurde
ihm nicht gewährt. Ein Mann stieg die Leiter hoch und
durchbohrte ihn mit einem Speer. Er fiel tot vom Dach herunter,
aber seine blutigen Eingeweide blieben auf dem Dach
zurück.
Die Antwort ist Ivar, und der erste
Buchstabe ist I.«
Siebenundzwanzig
Der Tag ging bereits zur Neige, und das Postschiff wurde von
Brjánslækur zurückerwartet. Kormákur Kolk
stellte sich mit seinem Handwagen bei der Kirchentür auf, wo
sich das Trio Grímur, Kjartan und Högni schon
eingefunden hatte. Es war an der Zeit, die Leiche zum Kai zu
transportieren. Kurze Zeit später kam der Pastor, der in einen
Talar gekleidet war. Diesmal hatte er vor, seinen ehemaligen Gast
bis zum Schiff zu begleiten. Grímur und Högni holten
die Kiste aus der Kirche und stellten sie auf den Wagen, auf dem
sich bereits ein versiegelter Postsack befand, der aber halb leer
zu sein schien. Postmeisterin Stína hatte sich diesen
Transport zunutze gemacht, um die Post zum Schiff zu
bringen.
Dann zogen sie los. Auch jetzt
wieder, genau wie beim ersten Mal, als die Kiste mit der Leiche
durch den Ort gezogen wurde, war das Dörfchen menschenleer.
Die Einwohner hatten sich zurückgezogen.
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