Das Raetsel von Flatey
›Wie
viele?‹ ›So viele kann ich gar nicht zählen,
aber gut dünkte es mir, wenn sie so zahlreich wären, dass
sie bei einem einzigen Mahle sämtliche Kühe meines
Bruders Hálfdan verzehren würden.‹ Da lachte der
König und sprach: ›Ich bin davon überzeugt,
Mutter, dass du hier in Harald einen König
aufziehst.‹
Die Antwort ist die Kühe von
Halfdan, und der erste Buchstabe ist K.«
Einunddreißig
Sonntag, 5. Juni 1960
Dank dem isländischen Rundfunk
war es den Einwohnern des Landes nicht entgangen, dass Pfingsten
angebrochen war. Aus Ingibjörgs Radio klangen Kirchenlieder
durch das Haus des Gemeindevorstehers. Der Rundfunkchor sang einen
isländischen
Pfingstchoral.
Über den
Breiðafjörður spannte sich immer noch ein strahlend
blauer und wolkenloser Himmel. Der Wind hatte sich gelegt, schien
aber jetzt gedreht zu haben. Wetterkundige Leute schauten zum
Himmel und prophezeiten einen schönen Tag, aber abends werde
es anfangen zu regnen. Das passte gar nicht schlecht, denn die
Heuwiesen brauchten Feuchtigkeit, damit das Gras sprießen
konnte. Auch wurden die Brunnen so langsam leer. Aber es wäre
nicht schlecht, wenn sich das schöne Wetter den Tag über
halten würde, solange die Gottesdienstbesucher unterwegs
waren.
Es lag so etwas wie Feiertagsstimmung
über dem Ort, als Kjartan gegen zehn Uhr nach unten ging und
hinausschaute. Gemeindevorsteher Grímur hatte sich in Schale
geworfen. Er trug einen dunklen Anzug und hatte sich gewaschen und
rasiert. Das Haar war glatt nach hinten gekämmt, und der Bart
war gestriegelt worden. Hausfrau Ingibjörg hatte ein
schönes Mieder angelegt und duftete nach Parfüm. Zum
Frühstück gab es bereits Gebäck.
An dem hohen Mast auf dem Hügel
vor der Kirche war die isländische Fahne gehisst worden und
flatterte lustlos in der lauen Brise. Hier und da sah man Menschen
unterwegs, aber niemand verrichtete irgendwelche Arbeiten. Der
Ruhetag war heilig und wurde wegen des hohen Feiertags streng
eingehalten.
Aus dem Küchenfenster
beobachtete Grímur die Motorboote von den inneren Inseln,
die jetzt in den Sund einfuhren. Sie waren voll besetzt mit
Kirchengästen.
»Es sah viel eindrucksvoller
aus, als die Boote von den Inseln früher unter
schneeweißen Segeln zum Gottesdienst kamen. Ich glaube, dass
der Allmächtige den Anblick mehr zu schätzen
wusste«, sagte er nostalgisch, während er die Namen der
Boote aufzählte und die Namen derer, die vermutlich an Bord
waren. Ab und zu hielt er sich ein altes Fernglas an die Augen, um
sich zu vergewissern, dass seine Vermutungen richtig gewesen
waren.
»Ja, ja, ich wusste es doch, da
kommt das andere Boot von Skáleyjar«, verkündete
er zufrieden.
Die Ankömmlinge waren
während der Überfahrt alltäglich angezogen und
hatten die Sonntagskleidung für den Kirchgang in Koffern
mitgebracht, desgleichen Proviant in Büchsen und
Thermosflaschen. Die Leute gingen bei der Eyjólfsmole an
Land und verschwanden in den Häusern von Freunden oder
Verwandten, um dann überraschend schnell wieder
festtäglich angezogen zum Vorschein zu kommen. Einige klopften
heimlich bei Kaufmann Ásmundur ans Fenster, und er
ließ sie durch die Hintertüre an der Ostseite des Hauses
in den Laden. Das Geschäft war an Sonn- und Feiertagen
selbstverständlich geschlossen, aber wo sie schon einmal am
Handelsort waren, musste man doch die Leute mit dem Notwendigsten
versorgen. Die Einkaufsgenossenschaft hatte aber strikt
geschlossen, denn das Haus lag nicht nur direkt neben dem Haus des
Pastors, sondern der Geistliche gehörte auch zu den
Vorstandsmitgliedern.
Als alle Boote von den inneren Inseln
angekommen waren, trieb Organist Högni den Kirchenchor
zusammen und marschierte an der Spitze der Gruppe zur Kirche. Vor
dem Gottesdienst sollte noch eine Probe stattfinden.
Um halb zwei zog Küster
Kormákur Kolk in vollem Ornat durch den Ort, seinen Wagen
hinter sich herziehend, auf dem seine Frau Guðríður
mit flach ausgestreckten Beinen saß. Als sie beim Haus des
Pfarrers ankamen, erschienen der Pastor und seine Frau, und
gemeinsam begaben sie sich zur
Kirche.
Ingibjörg sang ebenfalls im
Kirchenchor und war bereits mit dem Organisten losgegangen, nachdem
sie mit dem Aufwasch nach dem Mittagessen fertig war. Grímur
und Kjartan saßen im Wohnzimmer, tranken Kaffee und schwiegen
zusammen. Grímur ging einen Stapel der Zeitung Tíminn
durch, der am Vortag mit dem Postschiff gekommen war, während
Kjartan sich mit
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