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Das Raetsel von Flatey

Das Raetsel von Flatey

Titel: Das Raetsel von Flatey Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingólfsson
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sie an
einem guten Platz aufbewahrt wurden und zugänglich waren
...«
    Friðrik verstummte plötzlich
und runzelte die Brauen. »Zugänglich«, wiederholte
er dann zögernd, nachdem er überlegt
hatte.
    Dagbjartur spürte, dass noch
etwas anderes dahinter steckte, und wartete ruhig ab, bis
Friðrik fortfuhr: »Aber das war genau der springende
Punkt. Björn Snorri verlor Ende des Krieges seine Stelle in
Kopenhagen und hatte danach keinen Zugang zu den Handschriften
mehr. Ich erinnere mich jetzt, dass von Freundschaft zwischen ihm
und seinen dänischen Kollegen, einschließlich Gaston
Lund, zum Schluss keine Rede mehr sein konnte. Er wurde mit
unnötiger Härte aus dem Haus gewiesen. Aber es waren
damals zum Ende des Krieges ganz besondere Zeiten, und aus
angestautem Zorn geschahen unselige Dinge. Meine Familie und ich
haben Vater und Tochter Thorvald nach diesem Hinauswurf bei uns
aufgenommen, und einige Wochen später kamen sie mit uns
zurück nach Island. Jóhanna und Einar, mein
jüngster Sohn, gingen zusammen aufs Gymnasium und waren so gut
wie verlobt, bis Einar bei einem tragischen Unfall zu Tode
kam.«     
     
    Friðriks Stimme versagte einen
Augenblick, aber dann fuhr er fort: »Ich glaube allerdings,
dass Björn Snorri sich von diesen schlimmen Erfahrungen, die
er in Kopenhagen machte, wieder erholt hat. Er ist allerdings jetzt
seit einigen Jahren schwer krank gewesen. Ich nehme an, dass der
Krebs zum Schluss gesiegt hat.«
    Dagbjartur fragte: »Kannst du
mir Björn Snorri etwas genauer
beschreiben?«
    Friðrik überlegte kurz,
bevor er begann: »Björn Snorri war ein
außergewöhnlich begabter Intellektueller. Er war ein
hervorragender Wissenschaftler, und nur wenige seiner Zeitgenossen
konnten es in Sachen Handschriften mit ihm aufnehmen. Statt sich am
Text festzubeißen, begann er damit, sich ein Bild der
Handschriftenschreiber zu machen. Indem er sich in ihre Situation
zurückversetzte, konnte er sich die Vorlagen vorstellen, die
sie vor Augen gehabt haben. Hatten diese Schreiber die Gewohnheit,
die Feder zu spitzen, während sie in den Vorlagen
blätterten? Wann war der Schreiber in bester Form, zu Beginn
eines Arbeitstags oder später am Tage? Bestand zu bestimmten
Zeiten mehr Gefahr, dass ihm Fehler unterliefen? Fand er den Text
so interessant, dass er möglichst schnell vorwärts kommen
wollte? Oder war der Text langweilig und verleitete ihn dazu, sich
besonders bei den Buchstaben und Illuminationen ins Zeug zu legen?
In welchem Umfeld haben sie ihr Handwerk gelernt und was war
kennzeichnend für sie? Björn Snorri schuf sich ein Bild
von diesen Männern und blickte ihnen sozusagen bei der Arbeit
über die Schulter. Aber er war so damit beschäftigt,
diese seine viele hundert Jahre alten Bekannten zu analysieren,
dass er die Gegenwart komplett vergaß. Seine Zeitgenossen
waren so nah, dass er sich keine Zeit nahm, deren Anschauungen,
Ansichten und Befindlichkeiten zur Kenntnis zu nehmen. ›Wie
geht es dir?‹, war eine Frage, die er gewiss nie jemandem
gestellt hat. Stattdessen konnte er den gleichen Abschnitt eines
Textes durch mehrere Abschriften verfolgen und den Entwicklungsgang
ausgehend von den persönlichen Merkmalen des Schreibers
aufzeichnen. Er war viel zu beschäftigt mit diesen Dingen, als
dass er Interesse für seine Mitmenschen haben konnte. Er ging
einfach davon aus, dass derjenige, der ein Anliegen an ihn hatte,
schon an ihn herantreten würde. Körpersprache und
Andeutungen verstand er nicht. Ihm kam das alltägliche Leben
im Vergleich zu 700 Jahre alten Marginalglossen auf einem
abgegriffenen, schäbigen Pergament völlig unbedeutend
vor. Das Wissen, das er mit diesen seinen Methoden erworben hatte,
war enorm, und das musste er vermitteln. Schriftliche
Formulierungen, Forschungsberichte und dergleichen waren allerdings
nicht seine starke Seite, aber er konnte sich hinstellen und endlos
über seine Interessengebiete reden. Dazu war er in jeder
skandinavischen Sprache in der Lage, und außerdem sprach er
hervorragend Deutsch. Solche Vorlesungen nutzte er dazu, seine
Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu formulieren, zu strukturieren
und in einen Argumentationszusammenhang zu bringen. Der
mündliche Vortrag war bei ihm die letzte Stufe, wenn es darum
ging, Theorien aufzustellen. Es war ihm aber völlig
gleichgültig, ob ihm jemand zuhörte. Falls das Thema die
Studenten, die seine Vorlesungen besuchten, überforderte, dann
redete er einfach mit sich selber oder mit dem Zuhörer,

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