Das Raetsel von Flatey
zur Hand, bevor die Kriminalbeamten sich auf den
Friedhof begaben. Grímur folgte ihnen, aber er brauchte
ihnen nicht den Weg zu weisen. Die Leiche war vom Friedhofstor aus
gut zu sehen, und es war immer noch hell, obwohl der Himmel schwer
verhangen war. Es war nicht mehr lang bis zum längsten Tag,
und auch um Mitternacht wurde es nicht dunkel.
Lúkas ging
vornübergebeugt und beleuchtete den grasbewachsenen Pfad zu
seinen Füßen, und Ingimundur kam
hinterher.
»Es gibt keine
Blutspuren«, erklärte Lúkas. »Und keine
anderen erkennbaren Fußspuren.«
Als sie zu dem Grab kamen, wo die
Leiche lag, blieben die Polizisten stehen.
»Da ist herumgetrampelt
worden«, sagte Lúkas und wies auf das niedergetretene
Gras um das Grab herum.
»Ja, aber ich war heute Morgen
hier, und auch die Ärztin«, sagte
Grímur.
Lúkas sagte zu Ingimundur:
»Am besten nehme ich mir den ganzen Friedhof vor, aber wenn
wir keine Blutspuren finden, ist es sehr wahrscheinlich, dass der
Mann hier an diesem Ort so zugerichtet worden
ist.«
Er trat an die Leiche heran und
beugte sich über den Rücken.
»Der Mann war wohl kaum bei
Bewusstsein, als er so aufgeschlitzt wurde. Es gibt keinerlei
Anzeichen von Widerstand. Es sieht so aus, als wäre er in
diese Position gebracht worden, und dann wurden ihm die Kleider
heruntergezogen und der Rücken
aufgeschnitten.«
Er untersuchte Arme und Beine und zum
Schluss den Kopf. »Keinerlei Anzeichen dafür, dass er
gefesselt gewesen ist, und auch der Kopf ist dem ersten Anschein
nach unverletzt. Also kann man wohl Bewusstlosigkeit wegen einer
Kopfverletzung ausschließen.«
»Aber was ist mit
Vollrausch«, fragte Grímur. »Er stand bereits
unter Alkohol, als er auf der Insel ankam, und mir ist nicht zu
Ohren gekommen, dass er zwischendurch nüchtern geworden
wäre.«
Ingimundur antwortete: »Das
wird sich bei der Obduktion herausstellen. Wenn wir den Tatort
untersucht haben, schicken wir die Leiche mit dem
Küstenwachboot nach Stykkishólmur. Dort steht ein Auto
bereit, um sie direkt nach Reykjavík zu bringen.
Spätestens übermorgen werden wir einen vorläufigen
Obduktionsbericht in den Händen haben.«
Lúkas holte eine Kamera mit
einem großen Blitzgerät. Er machte einige Fotos von der
Leiche und musste nach jedem Blitz die Birne wechseln.
Grímur war wie geblendet, und zwischen den Blitzen kam es
ihm so vor, als läge der Friedhof im
Finstern.
»Man hat gar nicht das
Gefühl, als würde bald Mittsommernacht sein«, sagte
er und schaute zum schwer verhangenen Himmel auf.
Als Lúkas mit den Aufnahmen
fertig war, bückte sich Ingimundur zu dem Toten hinunter und
zog ihm den Mantel aus. Er hielt das Kleidungsstück mit dem
Zeigefinger der linken Hand hoch und untersuchte mit der anderen
Hand die Taschen. Er fand nichts außer einer fast leeren
Flasche Rum. Der klatschnasse Mantel kam in einen Sack und die
Flasche auch. Danach nahm er sich das Jackett vor und untersuchte
die Taschen auf die gleiche Weise. Eine Brieftasche aus Kunststoff
befand sich in der einen Brusttasche. Lúkas nahm sie
entgegen und beleuchtete mit der Taschenlampe den völlig
durchnässten Inhalt. Ein Busfahrschein von Reykjavík
nach Stykkishólmur, ein Presseausweis mit einem Foto von
Bryngeir und ein Scheckheft mit zwei unausgefüllten
Scheckformularen. In der anderen Brusttasche war ein Bündel,
das mit einem dicken Gummiband zusammengehalten wurde. Lúkas
nahm es vorsichtig auseinander. Ein dänischer Pass, eine
Brieftasche und ein dänisches Notizbuch kamen zum Vorschein.
Er öffnete den nassen Reisepass äußerst behutsam.
Das Bild war undeutlich, aber den Namen des Besitzers konnte man
noch gut lesen. Gaston Lund.
Grímur war völlig
perplex. »Das ist der Mann, der auf Ketilsey umgekommen ist.
Wie in aller Welt ist der Mann an diese Papiere gekommen?«,
fragte er schließlich.
»Er scheint bei seinen
Nachforschungen über das Schicksal von Lund mehr Erfolg gehabt
zu haben als der werte Herr Gemeindevorsteher«, konstatierte
Ingimundur.
»Glaubst du wirklich, dass
zwischen dieser Tat und dem toten Dänen eine Verbindung
besteht?«, fragte Grímur.
Ingimundur schwieg und überlegte
eine Weile, bevor er erwiderte: »Falls es da einen
Zusammenhang gibt, ist es sehr merkwürdig, dass sich diese
Papiere noch in der Tasche des Journalisten befanden. Falls er
umgebracht worden ist, weil er zu viel über das Schicksal des
Dänen wusste, dann wären doch wahrscheinlich diese
Papiere aus seiner Tasche entfernt
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