Das Raetsel von Flatey
worden. Aber es ist auch
unwahrscheinlich, dass sich zwei Gewalttaten in einer so kleinen
Gemeinschaft zutragen, ohne dass zwischen ihnen ein Zusammenhang
besteht. Im Gegenteil, es ist doch eher wahrscheinlich, dass es
sich um ein und denselben Täter
handelt.«
Grímur schüttelte
niedergeschlagen den Kopf. »Ich dachte, ich würde alle
meine Leute kennen.«
Lúkas beendete seine Arbeit
und holte dann die Kiste aus der Kirche. Die Kriminalbeamten hoben
gemeinsam die Leiche hoch und legten sie vorsichtig mit dem Bauch
nach unten in den Behälter. Jetzt ähnelte der Tote nicht
mehr einem roten Engel, und Grímur fand, dass er dort am
Boden dieser Kiste eher wie eine überdimensionale zermatschte
Schmeißfliege aussah. Er war froh, als der Deckel aufgesetzt
und verschraubt wurde. Ihn befiel das Gefühl, dass er etwas
Passendes sagen müsste, aber das Einzige, was ihm einfiel,
waren zwei Zeilen aus aus einem alten Kirchenlied. »Die
Kerzen ich entzünde, an Kreuzes heil’gem Baum«,
sagte er leise, aber dann konnte er sich nicht an die Fortsetzung
erinnern und fügte im Stillen »Amen«
hinzu.
Die Beamten trugen die Kiste vom
Friedhof und stellten sie auf den Handwagen. Dann machten sie sich
wieder auf den Weg zum Küstenwachboot.
Es war nach zwei Uhr, und nirgends
sah man Licht in den Häusern, außer im Arzthaus. Dort
stand eine Leiche aufgebahrt, und die Tochter war allein im Haus.
Kein Wunder, dass sie Licht brennen ließ. Pastor Hannes hatte
Grímur mitgeteilt, dass Jóhanna ihren Vater auf
Flatey beerdigen lassen wollte. Guðjón vom Rathof hatte
angefangen, den Sarg zu zimmern. Nach der Sarglegung würde die
Leiche in die Kirche gebracht.
Das Küstenwachboot lag
völlig im Dunkeln, aber auf der Brücke brannte Licht.
Vier Besatzungsmitglieder schoben Wache. Zwei kamen auf den Kai und
trugen die Kiste zwischen sich an Bord des Schiffes. Die
Kriminalbeamten gingen ebenfalls an Bord und holten kleine
Reisetaschen mit ihren persönlichen Dingen. Dann
verließen sie das Schiff, und nachdem der Landgang an Bord
gehievt und die Trossen gelöst worden waren, glitt es
rückwärts vom Kai weg. Es war schon auf dem offenen Meer,
als es endlich drehte und volle Kraft voraus gen Süden
fuhr.
Das Schiff sollte direkten Kurs auf
Stykkishólmur nehmen, die Kiste dort an Land setzen und dann
wieder nach Flatey zurückkehren. Dort hatte die Besatzung zur
Verfügung zu stehen und jeweils nach Bedarf den
Kriminalbeamten zur Hand zu gehen. Die öffentliche
Fernmeldeverbindung nach Flatey war so beschaffen, dass alle
mithören konnten. Die Küstenwache hatte aber die
Möglichkeit, Nachrichten zu senden, die niemand
entschlüsseln konnte, und das war bei einer Mordermittlung
unverzichtbar, damit die Kriminalbeamten mit ihren Kollegen im
Hauptquartier in Reykjavík Kontakt halten
konnten.
Grímur und die Beamten
beobachteten das Ablegen des Küstenwachboots und gingen dann
in den Ort. Man hatte im Schulhaus eine Unterkunft für die
Gäste hergerichtet.
*
»25. Frage: Von einer Schlange
getötet. Dritter Buchstabe.
König Olaf Tryggvason kam mit
seinen Mannen zum Hof des mächtigen Zauberers Raud. Sie
drangen mit Gewalt ein, und Raud wurde gepackt und gefesselt, aber
seine Gefolgsleute wurden getötet oder gefangen genommen. Der
König befahl Raud, sich taufen zu lassen. Raud sagte, dass er
sich niemals zu Christus bekehren würde, und er stieß
viele Gotteslästerungen aus. Raud wurde dann an eine
Eisenstange gebunden, und zwischen seine Zähne trieb man einen
Keil, um den Mund zu öffnen. Der König ließ eine
Schlange fangen und an seinen Mund halten, aber die Schlange wollte
nicht hineinkriechen, weil Raud sie anblies. Dann ließ der
König Raud sein Kriegshorn in den Mund stecken, und die
Schlange kroch hinein. Vor das Ende hielten sie ein glühendes
Eisen, vor dem die Schlange zurückwich und Raud in den Mund
kroch und dann weiter in die Brust bis zum Herzen, um ihm dann von
innen ein Loch in die Seite zu fressen. Auf diese Weise kam Raud
ums Leben.
Die Antwort ist Raud, und der dritte
Buchstabe ist U.«
Zweiundvierzig
Dienstag, 7. Juni 1960
Gemeindevorsteher Grímur
erwachte trotz der Nachtarbeit früh und war schon vor acht auf
den Beinen. Kjartan kam auch nach unten und wünschte einen
guten Morgen.
»Geht’s dir heute besser,
mein Lieber?«, fragte Grímur.
»Ja, es scheint vorbei zu sein,
danke der Nachfrage. Es tut mir Leid, dass ich gestern ausgefallen
bin.«
»Es ist nur natürlich,
wenn man
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