Das Regenmaedchen
gewesen. Aber nun hatten sie sich zerflattert, hatten sich
aufgelöst, ihre Nerven, keine Stahlseile mehr, waren zerflossen wie der
kälteste Schnee an Frühlingstagen.
Die Raststelle, an deren Ausfahrt Marie zu Tode gekommen
war, kam in Sicht. Franza blinkte, bog ein, ließ den Wagen auslaufen, fühlte
die plötzliche Welle, die in ihr hochschwappte, sprang hinaus, an den
Straßenrand, übergab sich, erbrach sich in konvulsivischen Wellen, in panischen
Schüben, bis nichts mehr aus ihr herauskam, nichts, nur durchsichtiger Schleim
und grünliche Galle. Jemand kam ihr zu Hilfe, ein Mann, sie sah ihn nur
undeutlich, wie durch einen Schleier, wie ein Gespenst, trotzdem hatte sie das
unbestimmte Gefühl, ihn zu kennen, er war wohl aus einem der Autos gestiegen
oder von der Toilette zurückgekommen. Er umfasste ihre Schultern, aber sie
schüttelte ihn ab, streckte abwehrend die Arme aus.
»Es geht schon«, keuchte sie. »Keine Bange, gleich geht es.«
Aber es ging nicht. Neuerlich überfiel sie die Faust im
Magen, das Hochschwappen der Welle.
Immerhin ließ sie sich nun die Haare aus dem Gesicht
streichen, während sie sich den Magen auswrang bis zum letzten Flöckchen
Schleim. Dann begann das Zittern. Sie klapperte mit den Zähnen, alle Farbe wich
aus ihrem Gesicht. Dann blieb ihr die Luft weg, das Herz setzte aus und sie
glaubte zu sterben. Sah Bohrmann vor sich in den letzten Lidschlägen seines
Zögerns, fühlte auf einmal die kalte Mündung seiner Pistole an ihrer Schläfe,
hörte Julianes Schrei, der setzte sich in ihrem Kopf fest und hakte sich ein,
dann hallte der Schuss, sprang hin und her in ihren Eingeweiden, während
Juliane schrie und schrie und vornübersackte, endlich, und plötzlich war es Ben
gewesen, der geschossen hatte, und da sackte sie selber, Franza, vornüber und
da schrie sie selber und spürte den Schmerz, wie er in ihren Eingeweiden tobte
und Schlünde riss und Krater, es war die Kugel, die in ihrem Körper rollte,
Bens Kugel, die rollte, rollte und sie sterben machte und endlich Stille.
»Setzen Sie sich«, sagte der Mann und dirigierte sie zu
einer Bank. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Sie sind ja vollkommen fertig. Ich
hole Ihnen einen Schluck Wasser.«
Zitternd streckte sie sich aus und legte sich seitlich auf
die Bank, zusammengekrümmt und hoffend, dass die Stille bleiben würde, Stille
im Körper und im Kopf und überall.
Der Mann kam zurück, sie merkte es daran, dass er seine
Hand auf ihr Haar legte und vorsichtig darüber strich. Schön, dachte sie, wie
angenehm, ich will sterben. Er roch nach etwas, das ihr bekannt vorkam und das
sie vor kurzem schon einmal gerochen hatte, sie erinnerte sich, weil sie es
gemocht hatte, aber sie kam nicht darauf, wann und wo das gewesen war.
»Ich will sterben«, sagte sie und genoss die Dunkelheit
und die Stille hinter den Augenlidern. »Jetzt. Sofort. Auf der Stelle. Lassen
Sie mich«, sagte sie, »lassen Sie mich sterben.«
Unentwegt strich seine Hand über ihr Haar, es war kühl, es
war feucht, er träufelte Wasser auf ihre Stirn, er kauerte dicht hinter ihr,
sie fühlte, sein Gesicht war ihrem nahe, aber sie konnte es nicht sehen.
»Nein«, sagte er, und seine Stimme hatte etwas, dem man
nicht widersprechen konnte. »Sie sterben nicht. So schnell geht das nicht.«
»Woher wissen Sie das?«, flüsterte sie in die Schwärze
ihrer Lider hinein. »Das kann man doch gar nicht wissen.«
»Doch«, sagte er. »Doch. Ich weiß das.«
Sie ist so weich gewesen, dachte Ben, wenn sie schlief in
meinen Armen. So unglaublich weich. Er hatte den Pulsschlag sehen können, wenn
sie schlief, den Pulsschlag an ihrem Hals. Wenn er vorsichtig einen Finger
darauf gelegt hatte, auf diese Stelle an ihrem Hals, hatte er es spüren können,
das Schlagen ihres Herzens, bum, bum, bum, wenn sie schlief, nachdem sie ihn
geküsst und mit ihm geschlafen hatte, nachdem seine Hose ihm eng geworden war,
weil sein Schwanz nach ihr drängte. »Das ist normal«, hatte sie gesagt und
gelacht und war mit ihrer Hand zwischen seine Beine geglitten, aber davon war
nichts besser geworden.
»Das muss dir nicht peinlich sein. Das ist völlig normal
bei Schwanzträgern«, hatte sie gelacht. »Und du bist nachweislich
Schwanzträger, wie wir beide wissen, nicht wahr?«
Auch er hatte lachen müssen und auch das vermisste er,
nun, da sie nicht mehr da war, ihr gemeinsames Lachen, das sich vermengte zu
einem Gemisch aus hohen und tiefen und mittleren Tönen, wie eine Sonate,
Weitere Kostenlose Bücher