Das Regenwaldkomplott
wohin sie ging, und sie hatte auch keine Erinnerung mehr, wo man sie vergewaltigt hatte.
»Aber ich weiß, wie sie aussehen, Mama«, sagte sie stockend. »Ich werde diese Gesichter nie vergessen! Gib mir ein Stück Papier.«
Und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Als Luise ihr einige Bogen Papier und einen Bleistift brachte, begann Leonor zu zeichnen, Strich um Strich, Linie um Linie, und so entstanden zwei Gesichter in aller Deutlichkeit, sogar der Ring im Ohr des einen war vorhanden. Helena nickte stolz.
»Ja«, sagte sie zu Thomas und Luise, »zeichnen konnte sie schon immer gut. Es ist ihr Traum, Modezeichnerin zu werden, aber wie kann unsereiner so etwas werden? Aber sehen Sie, Senhor Doktor, sehen Sie: Das sind die Kerle! Man wird sie wiedererkennen!«
»Genauso sehen sie aus.« Leonor sank erschöpft auf das Kopfkissen zurück. »Ich war wehrlos, willenlos, wie gelähmt, aber meine Augen konnten noch sehen, bis ich in Ohnmacht fiel. Der, den der andere Duarte nannte, ist der Mann mit dem Ring im Ohr. Er hat zuerst mit dem Bambus auf mich eingeschlagen und dabei laut gelacht und hat seine Hose fallen lassen. Es … es war schrecklich.« Sie schloß die Augen und drehte den Kopf zur Seite.
»Benjamim wird mit ihm sprechen.« Helena streichelte ihr Gesicht. »Es wird alles geklärt, mein Kleines.«
Sie sagte tatsächlich: »Er wird mit ihm sprechen.« Thomas sah kurz zu Luise hinüber und preßte die Lippen zusammen. Sie verstand ihn sofort.
»Wir können es nicht verhindern«, sagte Thomas später, als er mit Luise allein in seinem Zimmer war.
* * *
Die beiden Polizisten, die zum Schutz von Julio Maputo abkommandiert waren, führten ein bequemes Leben. Sie hatten ihre Uniformen ausgezogen und sahen jetzt aus wie die anderen Seringueiros, hausten in einem Anbau des Hauses, halfen Catarina Maputo im Garten oder lungerten herum, spielten mit anderen Seringueiros Karten und veranstalteten, um nicht aus der Übung zu kommen, Schießwettbewerbe, bei denen fast immer die Gummizapfer gewannen. Der beste Schütze war Maputos Freund und Leibwächter Vasco Torga, bei ihm saß jeder Schuß; und da man immer um eine Flasche Zuckerrohrschnaps als Siegespreis schoß, war die Stimmung um Maputo immer gut.
Der Mordaufruf schien verpufft zu sein, trotz der 100.000 Dollar Belohnung. Man sah keine fremden Gestalten oder Beobachter im Dorf. Ab und zu kamen ein paar Reporter von Zeitungen, denen Maputo vom Untergang des Regenwaldes erzählte und von der Macht der Konzerne und Großgrundbesitzer. Sonst war es still im Ort – zu still, wie Vasco Torga meinte.
»Es ist wie bei einem Taifun«, sagte er. »Erst ist alles still, kein Blatt bewegt sich – und dann kommt der Sturm, der alles fortreißt und vernichtet. Ich traue dem Frieden nicht.«
An einem Freitag erschien ein Fernseh-Team aus England, um mit Maputo ein Interview zu drehen. Die Engländer wurden von den Wachen Maputos genau untersucht, nach Waffen abgetastet, die Kameraausrüstungen inspiziert, ehe sie bis zu Maputos Haus weiterfahren durften. Sie hatten sich schon aus Surucucu angemeldet. Es sollte ein schonungsloses Interview werden, bei denen Maputo Namen und Orte nennen sollte. ›Die Wahrheit über den Tod des Regenwaldes‹ sollte der Film heißen. In ganz Europa sollte er gesendet werden.
Nachdem Kamera, Scheinwerfer und Reflektoren aufgebaut waren, das Haus, die Familie und die Umgebung gefilmt waren, setzten Maputo und der Redakteur sich im Garten hinter dem Haus gegenüber. Die beiden Polizisten und Vasco Torgas Männer riegelten das Gebiet hinter dem Garten ab. Nicht einmal eine Maus wäre unbemerkt durchgekommen.
»Stimmt es«, fragte der Reporter, »daß Sie eine Todesdrohung bekommen haben?«
»Ja.« Maputo zeigte keinerlei Anzeichen von Aufregung oder Zorn. »Nicht eine, sondern in den vergangenen Monaten mehrere. Daran habe ich mich gewöhnt, damit muß ich leben.«
»Und Sie nehmen die Drohung ernst?«
»Ich muß sie ernst nehmen. Ich wäre nicht der erste, den die Pistoleiros der Großgrundbesitzer auf dem Gewissen haben. Nein, das ist falsch, nicht Gewissen, denn sie haben ja kein Gewissen. Es muß heißen: die sie feige, aus dem Hinterhalt ermordet haben.«
»Und wie lebt es sich mit dem Tod im Nacken?«
»Ich bin ganz ruhig. Es liegt in Gottes Hand, was mit mir geschieht. Man kann seinem Schicksal nicht davonlaufen. Aber ich hoffe, noch so lange zu leben, daß ich mit ansehen kann, wie der Regenwald gerettet wird,
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