Das Regenwaldkomplott
sich zum Stamm vorzutasten, in der Hoffnung, auf seinen Ästen absteigen zu können wie auf einer natürlichen Treppe. So ähnlich war es auch, nur lagen die Äste so weit aus- und untereinander, daß es wirklich eine Kletterpartie wurde. Gilberto, der zuerst abstieg, blickte hoch zu Minho.
»Zehn Meter tiefer geht es besser!« rief er hinauf. »Da sind die Lianen und Würgefeigen, die den Stamm umklammern. Daran kann man sich herunterlassen wie an dicken Seilen.«
»Wir müssen André suchen, Gilberto.«
»Der schwebt etwas tiefer zwischen Himmel und Erde. Ich kann ihn erkennen.«
»Dann rüber zu ihm.«
»Das geht nicht, Senhor.«
»Warum nicht?«
»Er liegt nicht in unserem Baum, sondern auf einem Baum neben uns. Da kommen wir nicht ran.«
»Wir können ihn doch nicht in den Ästen hängen lassen!«
»Wissen Sie was Besseres?« schrie Gilberto. »Ich kann mich nicht von Baum zu Baum schwingen wie Tarzan!«
»Warum nicht?« rief Minho spöttisch zurück.
»Senhor, Sie können mich mal!« brüllte der Pilot. »Ich bin glücklich, wenn ich auf der Erde stehe.«
Gilberto kletterte weiter hinab, erreichte die Würgefeigen und hangelte sich hinunter. Sie waren wirklich wie dicke Taue mit knorrigen Knoten, die einen guten Halt für Füße und Hände boten. So eine Würgefeige ist ein tödlicher Schmarotzer. Auf dem Waldboden fängt sie ganz harmlos als ein Pflänzchen an, kriecht zu dem Stamm, der ihr Wohnsitz sein soll, und dann wächst und wächst sie, windet sich an dem Stamm empor, umschlingt ihn mit tausend Armen, höher, immer höher, zehn, zwanzig, dreißig Meter hoch, überwuchert völlig den mächtigen Baum, bis sie ihm die Luft nimmt, bis sie ihn vollständig umklammert, bis sie ihn erwürgt hat – die Würgefeige.
Gilberto erreichte den Waldboden und starrte hinauf in das tausendfache Astgewirr. Er sah Minho nicht mehr, er hörte ihn nur. In fast dreißig Meter Höhe raschelte und knackte es. Ab und zu stießen einige Totenköpfchen schrille Warnrufe aus, und ein dicker Auerstachler, ein Bursche von einem Meter Länge und mit abwehrbereitem braunem Stachelfell, glotzte zu Gilberto hinunter.
»Hören Sie mich, Senhor?« brüllte Gilberto den Baum hinauf.
»Ja. Ich höre Sie.«
»Wollen Sie da oben ein Schläfchen machen? Sieben Meter unter Ihnen beginnen die Würgefeigen. Damit ist es ein Vergnügen, runterzukommen.«
»Ich sehe mir André an.«
»Reißen Sie sich von dem Anblick los, Senhor. Sie kommen an ihn nicht ran! Trösten Sie sich mit dem Gedanken, daß er in Kürze von Ameisen und Termiten, Geiern und Adlern zerlegt wird. Er ernährt die Tiere eines Baumes. Das ist doch etwas Erhabenes für einen Umweltschützer wie Sie.«
Das Knacken und Rascheln begann von neuem, Minho gab auf und stieg weiter ab. Er erreichte die oberen Würgefeigen und kletterte an ihnen hinunter. Dabei sah er in den großen, wassergefüllten Bromelien bunte Frösche sitzen, eine Art, die noch kein Mensch gesehen hatte. Die letzten zwei Meter ließ er sich fallen. Gilberto fing ihn auf.
»Willkommen, Senhor!« sagte er sarkastisch. »Die Erde hat uns wieder. Ist doch fabelhaft, festen Boden unter den Sohlen zu haben. Haben Sie eine Zigarette, Senhor?«
»Nein. Ich rauche nicht.«
» Porra ! Verdammt!« fluchte Gilberto. »Und ich habe meine Schachtel im Cockpit gelassen.«
»Dann klettern Sie wieder hoch und holen sich Ihre Zigaretten.«
»Ich habe schon bessere Witze gehört, Senhor. Ich bin doppelt gestraft. Mein Flugzeug kaputt und unterwegs mit einem Nichtraucher. Jetzt fehlen nur noch die Indios aus der Steinzeit.«
Sie setzten sich auf den Waldboden zwischen zwei mächtige Brettwurzeln und ruhten sich aus. Gilberto lud sein Gewehr und seinen Revolver. Plötzlich ruckte er erschrocken zu Minho herum.
»Senhor, lieber Himmel, sagen Sie bloß, Sie hätten auch keine Streichhölzer bei sich.«
»Ja.«
»Was heißt ja?«
»Ich habe keine bei mir.«
»Dann müssen wir alles, was wir schießen, roh essen. Haben Sie schon mal einen Ameisenbären roh gegessen?«
»Nein. Ich würde es auch nicht tun.«
»Um zu überleben, werden Sie Würmer fressen, Senhor. Ich kann nicht wie die Indios durch Reiben von zwei Hölzern Feuer machen.«
»Aber ich.« Minho lächelte und griff in die Hosentasche. »Ich habe ein ganz neues Feuerzeug bei mir. Das reicht eine Weile.«
Er zeigte Gilberto das Feuerzeug und steckte es dann wieder weg.
»Das ist gut«, sagte der Pilot. »Das ist sehr gut, Senhor. Damit können
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