Das Reich der Dunkelheit
Papyrusrollen, um das Reich der Toten zu besuchen“, erklärt Norma. „So ähnlich, wie wir heute Reiseführer benutzen. Wer reich genug war, ließ sich eine Kammer bauen, die er mit allem anfüllte, was er voraussichtlich in dem neuen Leben brauchen würde. Damals wurden die Leichname mit Salz, Harz, Ölen und Gewürzen einbalsamiert, nach einer Formel, die bis heute ein Geheimnis geblieben ist.“
„Hör mal, wirst du mich auch dann noch lieben, wenn ich einbalsamiert werde?“
„Lass uns hinterher darüber reden“, antworte ich. „Jetzt möchte ich zuhören, es ist sehr interessant.“
„So ein Quatsch!“, zischt Mireia. „Wen interessiert das denn! Tausend Jahre alte Zeichnungen zu entschlüsseln, die Geschichten über Tote erzählen! Sehen aus wie Comics!“
„Osiris, der Gott der Toten, ermordete seinen Bruder“, erklärt Norma weiter. „Doch der Bruder stand von den Toten auf, und seitdem lebten die Menschen in der Hoffnung, nach ihrem Tod ebenfalls wiederaufzuerstehen … wie man auf diesen Zeichnungen erkennen kann.“
Metáfora, die neben Horacio sitzt, schaut nicht ein einziges Mal zu mir herüber.
„Von all dem wüssten wir nichts, wenn es die Schreiber nicht gegeben hätte. Sie bildeten eine eigene Kaste neben den Soldaten und den Priestern. Die frühen Ägypter bezeichneten ihre Kunst als ‚die schönste von allen’. Einige Kalligrafen wurden sogar in den Fürstenstand erhoben … Ich bezweifle, ob einem von euch irgendwann eine solche Ehre zuteil wird … Ihr seht, die Kunst des Schreibens ist nicht so unnütz, wie einige unter euch meinen …“
„Schreiben und Lesen ist das Langweiligste, was es gibt“, sagt Andrés. „Ich würde mich lieber erschießen, als mein Leben zwischen Büchern zu verbringen!“
„Auch wenn einige von euch anderer Meinung sind, so ist Schreiben eine Technik, die es uns ermöglicht, mehr oder weniger gut zu leben“, widerspricht Norma. „Wer schreibt, der bleibt, sagte man früher … Ich hoffe nur, dass euer Leben nicht in Vergessenheit gerät, wenn ihr einmal zu Staub werdet“, fügt sie hinzu. „Der Unterricht ist beendet, ihr könnt in die Pause gehen.“
„Gott sei Dank!“, stöhnt Mireia. „Noch eine Minute, und ich hätte mich umgebracht! So eine Scheiße! Es gibt doch überhaupt keine Ägypter mehr!“
„Doch.“
„Klar, aber ich meine die mit den Pharaonen.“
„Einige Dinge wird es immer geben. Das Ägypten der Pharaonen existiert auch heute noch.“
„Ja, in der Welt der Toten … Los, komm, lass uns was trinken! Ich lade dich ein, vielleicht kriegst du dann ja bessere Laune. Du siehst so down aus, Arturo. Willst du mir nicht erzählen, was du hast?“
„Ach, nichts Besonderes. Nur … In der Stiftung ist so viel passiert in letzter Zeit, und ich bin etwas … durcheinander. Aber es ist nichts, wirklich nicht.“
Auf dem Schulhof holt Cristóbal uns ein.
„Arturo! Mein Vater hat mir gesagt, ich soll dich daran erinnern, dass der Kongress in zwei Tagen stattfindet.“
„Ich weiß, danke“, antworte ich. „Bestell deinem Vater, ich habe meine Rede vorbereitet.“
„Werd’s ihm sagen. Ich hab gefragt, ob ich auch dabei sein kann, und er hat gesagt, er will es versuchen. Dann bin ich ganz in deiner Nähe …“
„Was willst du denn auf so einem Kongress?“, frage ich ihn.
„Mann, ich würde zu gern hören, was du da erzählst! Ich möchte mehr über dich wissen. Dein Drache interessiert mich, das hab ich dir doch schon gesagt.“
„Cristóbal, findest du nicht, dass du nervst?“, fährt Mireia ihn an. „Und damit du’s weißt: Ich werde ihn auf den Kongress begleiten. Ich möchte wissen, was die Fachleute über seine Träume sagen.“
Jetzt kommen auch Metáfora und Horacio zu uns.
„Hallo, Arturo“, begrüßt mich Horacio. „Ich würde dir gern was zeigen. Kommst du?“
„Die Pause ist gleich vorbei“, antworte ich.
„Aber es dauert nicht lange. Bevor es klingelt, sind wir wieder zurück.“
„Na gut“, willige ich ein, damit er sieht, dass ich keine Angst vor ihm habe und ihm auch nicht mehr böse bin. „Wohin gehen wir?“
„In den Garten, hinter den Geräteschuppen.“
„Ich komm mit“, sagt Cristóbal.
„Das ist nur was für Männer, du halbe Portion“, antwortet Horacio unfreundlich. „Du bleibst hier!“
Cristóbal merkt, dass es keinen Zweck hat, darauf zu beharren.
„Also gut, dann bleib ich eben hier“, sagt er, „aber ich finde es ungerecht, damit du’s
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