Das Reich der Dunkelheit
Lichter an.
Ein Jogger kommt mir entgegen. Er schwitzt und atmet schwer. Als er an mir vorbeiläuft, fällt sein Blick auf den Drachen auf meiner Stirn. Zwei junge Männer kommen angelaufen und starren mich ebenfalls an. Ich ziehe mir die Mütze tief ins Gesicht. Unglaublich! Die Zeichnung ist trotz der Dunkelheit auf meiner Stirn zu sehen.
Jetzt bin ich wieder allein. Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Was ist los? Was passiert denn jetzt?
Etwas wird mir über den Kopf gestülpt. Ich kann nichts mehr sehen. Jemand schlingt die Arme um mich und hält mich fest … Nein, es sind zwei … Jetzt stoßen sie mich vorwärts!
„Kein Ton, Kleiner!“, zischt mir einer der beiden ins Ohr. „Komm bloß nicht auf die Idee zu schreien!“
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, versetzt er mir einen Stoß in die Rippen.
Sie zerren mich gewaltsam ins Gebüsch. Einer hält mich am Hals gepackt, der andere umklammert meinen Körper und schubst mich. Ich falle hin.
„Schrei bloß nicht!“, droht dieselbe Stimme wie vorher.
Ich versuche, flach zu atmen und mich auf das zu konzentrieren, was um mich herum vorgeht.
Plötzlich spüre ich einen scharfen Gegenstand in meinem Nacken.
„Schneid ihm die Gurgel durch! Mach schon, dann sind wir ihn endlich los!“
„Nein, ich würde ihm lieber … Auuuu!“
„Was hast du?“, fragt der Erste.
„Lass ihn los!“, schreit jemand. „Lass ihn los, oder ich mach dich fertig!“
Ich spüre, dass der Druck im Nacken nachlässt. Der Mann, der mich am Hals gepackt hat, lockert seinen Griff.
„Das wirst du mir büßen!“, zischt er drohend.
„Verpiss dich!“, schreit ihn mein Retter an. Die Stimme kommt mir bekannt vor.
Ich bewege mich nicht, für alle Fälle. Stattdessen warte ich auf das, was als Nächstes passieren wird. Man zieht mir die Kapuze vom Kopf.
„Ganz ruhig, Arturo“, sagt die Stimme meines Freundes Hinkebein. „Ganz ruhig.“
Ich sehe ein Messer, das ins Gras gefallen ist, und zwei Gestalten, die in der Dunkelheit verschwinden.
„Was ist passiert?“, frage ich. „Was waren das für Typen?“
„Keine Ahnung, aber sie hatten nichts Gutes mit dir vor, das kannst du mir glauben!“
„Ich kapiere gar nichts mehr. Sie haben gesagt, sie wollten mich umbringen.“
„Hör zu, ich glaube, es ist besser, wir verschwinden so schnell wie möglich von hier. Steh auf!“
Ich verkneife mir weitere Fragen und stehe auf. Hinkebein humpelt auf den Weg zurück, ich hinterher. Kein Mensch ist zu sehen.
„Ein Glück, dass ich die beiden beobachtet habe“, sagt Hinkebein. „Sonst wärst du jetzt vielleicht tot.“
„Danke, dass du mich gerettet hast, Hinkebein. Vielen Dank. Vielleicht sollte ich zur Polizei gehen …“
„Nein! Du redest mit keinem darüber, hast du mich verstanden? Kein Wort, mein Junge, zu niemandem! Ich werde mich darum kümmern.“
Wir gehen zur Stiftung zurück. Vor der Eingangstür warnt er mich noch einmal eindringlich:
„Vergiss nicht, Arturo: Kein Wort, zu niemandem!“
***
N ACH ALL DEM, was mir heute Abend passiert ist, und entgegen Hinkebeins Rat muss ich mich bei jemandem aussprechen. Ich gehe hinauf in die Dachkammer, nehme das Laken vom Bild meiner Mutter und fange an, mit ihr zu reden.
„Mama, ich habe Angst. Heute Abend hat jemand versucht, mich umzubringen. Wenn Hinkebein nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Das Schlimmste ist, ich weiß nicht, wer die Typen waren, die mich töten wollten.“
Ich reibe mir nervös die Hände und überlege, wie ich fortfahren soll.
„Hinkebein hat mir geraten, keine Anzeige zu erstatten. Ich habe auf ihn gehört. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das richtig war … Die Männer, die mich überfallen haben, waren keine gewöhnlichen Verbrecher. Die wussten ganz genau, wer ich bin. Hinkebein hat gesehen, wie sie mir gefolgt sind. Sie haben gesagt, sie wollten mir die Kehle durchschneiden. Warum? Reichte es ihnen nicht, mich zu erstechen?“
Plötzlich fällt mir eine Antwort auf meine Frage ein, aber sie scheint mir so ungeheuerlich, dass ich mich nicht traue, sie laut auszusprechen. Wenn das stimmt, was ich vermute, ist mein Leben ernsthaft in Gefahr.
Ich bedecke das Bild wieder mit dem Laken und gehe hinaus. Doch bevor ich in mein Zimmer hinuntergehe, steige ich aufs Dach derKuppel und betrachte die Stadt, die sich wie immer zu meinen Füßen ausbreitet.
S IEBTES B UCH
Die Reise zur Höhle des Drachen
I
C ARTHACIA
N ACH VIER T AGEN näherten sich Arturo
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