Das Reich der Elben 01
Branagorn zusammen mit seinem König verschlagen hatte, drang ohnehin kein Sonnenstrahl. Das magische Licht von Fackeln, die nicht wirklich brannten und auch keine Wärme abstrahlten, und die geheimnisvoll leuchtenden Steine waren offenbar nicht dazu geeignet, diese wundersame Eigenschaft Lichtfangs zu wecken. Diese Lichtquellen, davon war Branagorn überzeugt, waren aus dunkler Magie geboren, und diese dunkle Magie wollte sich nicht mit der hellen weißmagischen Kraft seiner Waffe vereinigen. Nur schwarzer Zauber schien an diesem ungastlichen Ort seine Wirksamkeit entfalten zu können, das war Branagorn ziemlich schnell klar geworden. Umso erstaunter und geradezu entsetzt war er darüber gewesen, dass sich sein König auf den Augenlosen eingelassen hatte. Und dies nur für das vage Versprechen, irgendetwas über das zukünftige Schicksal der Elben und seiner Selbst zu erfahren.
»Was willst du tun?«, höhnte der Augenlose, als ihm Branagorn die Schwertklinge an die Kehle setzte. Der Seher ließ es zunächst widerstandslos geschehen, doch die sechsfingerigen Hände waren so fest um die beiden verzauberten Wanderstäbe gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Brauchst du wirklich noch einmal einen Beweis meiner Macht? Muss ich einem Narren wie dir tatsächlich erst ernsthaften Schaden zufügen, ehe du einsiehst, dass du mit deinem lächerlichen Schwert hier nichts erreichen kannst?«
Branagorn fühlte, wie blanker Hass in ihm aufwallte. Aber der Augenlose hatte zweifellos recht, so sehr es dem jungen Elbenkrieger auch widerstrebte.
Branagorn senkte die Klinge, steckte sie allerdings nicht zurück in die Scheide. So sinnlos es auch sein mochte, mit einer derartigen Waffe den Augenlosen zu irgendetwas zwingen zu wollen, so wollte er doch auch nicht wehrlos dastehen – auch im Hinblick auf die unsichtbaren Mächte, die an diesem Ort lauerten…
»Jeder kämpft allein mit seinem Schicksal«, sagte der Seher.
»Ich dachte, das hättest du inzwischen begriffen.«
»Wenn König Keandir etwas zugestoßen sein sollte, werde
ich dein Schicksal sein, Schattenkreatur!«
»Die Sprache deines Volkes, in der du deine Gedanken formulierst, ist ungewöhnlich differenziert in ihrem Ausdrucksvermögen…« Mehr kümmerte sich der Seher um Branagorns Erwiderungen nicht; stattdessen wirkte er sehr konzentriert und war offenbar damit beschäftigt, in den Gedanken des jungen Elbenkriegers zu forschen. »Ah… so viel Rechtschaffenheit, Branagorn! Das ist kaum zu ertragen!« Der Seher kicherte. »Wie gesagt, die Sprache deines Volkes ist sehr differenziert, und zuweilen gibt es in ihr Hunderte von Ausdrücken, die denselben Gegenstand beschreiben. Doch jedes dieser Synonyme betont eine andere Facette…
Beeindruckend! Aber die Seele, die ich vor mir sehe, ist die Seele eines Kindes, und deshalb spreche ich dich von nun an auch so an, wie ihr im Umgang mit Kindern zu sprechen pflegt.«
»Damit kannst du mich nicht beeindrucken, Nachtkreatur!«, knurrte Branagorn. Doch etwas beunruhigte ihn: Die Laute, die ihn zuvor noch hatten schaudern lassen, waren auf einmal so gut wie verstummt. Nur hin und wieder war noch ein Glucksen oder Schmatzen zu hören, so als ob etwas in der stinkenden Brühe des sogenannten Schicksalssees versank.
»Kinder – dieser Begriff scheint euch Elben nicht mehr sehr geläufig zu sein. Unter euch sind sie erschreckend selten. Jetzt wundert mich eure Sicht der Dinge nicht mehr. Ja, eine seltsame Welt habt ihr Elben euch geschaffen – ein Welt unerfüllbarer Ideale, voller Luftschlösser und… ja, da ist ein weiterer Begriff: Bathranor, die Gestade der Erfüllten Hoffnung. Du scheinst daran ebenso zu glauben wie an das Reich der Jenseitigen Verklärung. Ein Grad an Naivität, der mich beeindruckt.« Er kicherte erneut. »Im Lauf der Äonen hatte ich immer wieder Besucher hier in meinem einsamen, finsteren Exil. Besucher, die den unterschiedlichsten und absonderlichsten Rassen angehörten – aber an etwas vergleichbar Naives und Kindisches kann ich mich nicht erinnern.«
»Schweig!«, rief Branagorn. Und er lauschte.
Die Geräusche aus dem Unsichtbaren waren inzwischen völlig verstummt. Doch die Stille, die auf einmal herrschte, war viel schrecklicher als alles, was er zuvor vernommen hatte. Branagorns feine Elbensinne waren aufgrund seiner Jugend noch längst nicht so weit entwickelt, wie es bei den Älteren des Lichtvolks der Fall war. Dennoch war er sicher, dass Keandir ganz in seiner Nähe
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