Das Reich der Katzen (German Edition)
Katzen folgten ihnen wenig später. Als sie den Wald
erreichten, verspürte Onisha zum ersten Mal seit vielen Wochen nicht mehr die
unnatürliche Enge um ihren Brustkorb. Die Aura des Waldes war durch und durch
positiv. Mystisch zwar, aber dennoch von gutem Geiste. Onisha fühlte deutlich
die Verdichtung positiver Energie und Magie. Sie senkte ihre Nase und
schnupperte an der lockeren, schwarzen Erde. Der Duft erzählte ihr von Wesen,
die hier in diesem Wald ihre Feste gefeiert, Lieder gesungen und Bräuche
begangen hatten. Sie sah plötzlich vor sich Bilder von tierköpfigen Göttern,
sah eine Barke, in der der Sonnengott Re von Osten nach Westen fuhr. Dann sah
sie Wolkenformationen, die Tefnut, die Göttin der Wolken, geschickt hatte.
Beeindruckend aber war das letzte Bild, das sich vor Onishas Augen formierte:
ein steinernes Monument. Ein liegender Löwe mit einem Frauenhaupt, mit
Königsbart und Königskopftuch. Eine gewaltige, in Gedanken versunken wirkende
Sphinx. Das Bild wurde von zwei schlanken Frauengestalten verdrängt. Die eine
mit einem Katzenkopf, die andere mit einem Löwenantlitz. Und in Onishas Kopf
flüsterte und wisperte wieder die Stimme: Bastet und Sachmet ... Bastet und
Sachmet ...
Auf dem Weg zu der heiligen Eiche, in der Bambara leben sollte,
kamen sie an seltsamen Opfer und Kultstätten vorbei. Der Wald war wirklich
voller Magie. Und diese Magie weckte auch wieder das eigenständige Leben des
Lapis an Onishas Hals. Gebündelte Energiestrahlen durchzogen ihren Körper.
Belebten ihre Seele und ihren Geist. Sie fühlte erstmals seine ungeheure Kraft.
Ahnte aber auch, dass er, zu mehr fähig war. Das wiederum warf die bange Frage
in ihr auf, ob sie damit umzugehen vermochte.
Die heilige Eiche stand wie ein Kultobjekt einsam und hoheitsvoll
auf einer Anhöhe. Um sie herum waren in einem exakten Kreis Runensteine, die
leicht bemoost in der Dämmerung glänzten, aufgestellt. So als habe ein Riese
mit Bedacht seine Murmeln verstreut. Onisha fühlte sich von diesem Ort
besonders angezogen. Sie dachte daran, was Valentin über Bambara erzählt hatte.
Dass der Zauberer ein Meister der Sternenkunde und der Kosmogonie, der Lehre
von der Entstehung und der Ordnung der Welt und der Natur, war..
Die Katzen huschten zwischen den Runensteinen hindurch. Und da
war wieder das telepathische Band zwischen Fleur und Onisha, das sie schon
verloren wähnte. Sie fühlten sich beide von einer fremden Macht umgeben.
Wussten diese nicht zuzuordnen. Fragten sich, ob sie von den Steinen oder dem
Wald oder gar von beiden ausging.
Ben tauchte neben ihr auf. »Irgendwie fühle ich mich nicht wohl
in meiner Haut«, gestand er.
Onisha sah ihn aufmunternd an. »Mach dir keine Sorgen, Ben!«
Bambara war ein alter, gebeugter Mann. Onisha war enttäuscht, als
sie ihn sah. Er trug ein schmutzig braunes, kuttenartiges Gewand, das bis zum
Boden reichte und von einer einfachen Kordel in der Taille zusammengehalten
wurde. Der Greis stützte sich schwer auf einen Stock. Sein graues Haar fiel ihm
unordentlich in die Stirn und reichte bis weit über die Schultern. Alles an ihm
sah alt und ungepflegt aus. Er war ein Bild des Zerfalls.
Der soll uns helfen?, dachte Onisha enttäuscht, dieser Tattergreis,
der sich kaum auf seinen Beinen halten kann?
Doch auch Bambara hielt eine Überraschung für sie bereit. Zeigte
ihr, dass nichts mehr in ihrer Welt so zu sein schien, wie es den Anschein
erweckte. Als er sie nämlich ansprach, war seine Stimme erstaunlich fest und
keineswegs zittrig. »Seid gegrüßt. Wohin des Weges?« Seine eisgrauen Augen
ruhten zuerst auf Valentin und musterten dann die restliche Katzenschar.
Blackbird und seine Gefolgschaft flogen herbei und setzten sich wie stumme Phantome
der Nacht auf die Runensteine.
Als niemand auf seine Frage antwortete, öffnete Bambara den Mund.
Wohl um sie zu wiederholen. Aber Onisha gab Antwort: »Wir sind auf dem Weg in
das Reich der Katzen. Doch vorher habe ich noch eine Verabredung mit Lavina.
Sie sagte mir, du wärest in der Lage, mir den Weg in das Tal der Träume zu
zeigen.«
»Was um Himmels willen wollt ihr von Lavina?« Bambaras
Erschrecken war deutlich auf seinem faltigen Gesicht zu lesen.
»Sie will uns daran hindern ...«
»Der Stein«, unterbrach Bambara Onisha. »Du trägst den Stein der
Weisen.« Sein Verhalten Onisha gegenüber veränderte sich schlagartig. Er war
mit einem Mal überfreundlich und zugänglich. »Es wird nicht leicht werden«,
brummelte er und
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