Das Reigate-Rätsel
daß es zwischen dem Paar niemals Mißverständnisse gegeben habe. Im ganzen meint er zwar, daß der Colonel seine Frau mehr geliebt hat als sie ihn, denn er war unsicher und unglücklich, wenn sie auch nur einen Tag von ihm fort war. Sie dagegen, obgleich sie ihm treu ergeben war, schien gar nicht so sehr gefühlvoll an ihn gebunden gewesen zu sein. Aber im Regiment galt ihre Ehe als eine muster-gültige Ehe für ein Ehepaar mittleren Alters. Es gab absolut nichts in ihren gegenseitigen Beziehungen, was ihre Umgebung auf die Tragödie vorbereitete, die nun kommen sollte.
Colonel Barklay schien ein paar recht hervorstechende Charaktereigenschaften zu haben.
Normalerweise zeigte er sich als feuriger, jovialer alter Soldat, aber es gab auch Gelegenheiten, wo ein gewisser Hang zu Zorn und Gewalttätigkeit herauskam.
Allerdings hat sich diese Seite seines Charakters niemals gegen seine Frau gewandt. Noch etwas: Major Murphy ist aufgefallen und vier oder fünf andere Offiziere, mit denen ich gesprochen habe, haben es bestätigt, daß er an einer merkwürdigen Depression litt, die ihn manchmal überfallen konnte. Der Major drückte es so aus: Er meinte, man müsse es sich so vorstellen, als wenn eine unsichtbare Hand ihm manchmal das Lächeln aus dem Gesicht gewischt hätte, es wäre ihm gelegentlich in der Messe, wenn er mit all den anderen Offizieren zusammen war, inmitten aller Fröhlichkeit passiert. Wenn es ihn packte, dann konnte diese Stimmung ihn viele Tage lang halten, er konnte in tiefste Düsterkeit versinken. Ein gewisser Hang zum Aberglauben gehörte ebenfalls zu seinem Charakter. Das verwunderte die Kameraden natürlich manchmal. Diese eher jungenhaften Züge seines Charakters haben natürlich oft Stoff für Gerede und Kommentare geboten.
Das erste Bataillon des Royal Münster (es war das alte Hundertsiebzehnte) ist seit einigen Jahren in Aldershot stationiert. Die verheirateten Offiziere leben außerhalb des Camps. Der Colonel hatte für diese Zeit eine Villa gemietet, die >Lachine<, ein Haus, das etwa eine halbe Meile nördlich des Camps gelegen war. Er hatte das Haus mitsamt dem Grundstück gemietet, die Westseite der Straße war etwa 30 m entfernt. Die ganze Dienerschaft bestand aus einem Kutscher und zwei Mädchen. Das Ehe-paar mit ihre n Hausangestellten waren die einzigen Bewohner von
>Lachine<, denn die Barklays haben keine Kinder. Es war auch bei ihnen nicht üblich, über längere Zeit Gäste einzuladen.
Nun komme ich zu dem, was in >Lachine< am letzten Montag zwischen neun und zehn Uhr geschehen ist. Mrs. Barklay ist, wie ich feststellen konnte, Mitglied der römisch katholischen Kirche. Sie hat sich sehr für die St. Georgs Guilde eingesetzt, einem Club innerhalb dieser Kirche, der in Verbindung stand mit der Watt-Street-Kapelle. Dieser Club hat es sich zur Aufgabe gemacht, arme Leute mit abgelegter Kleidung zu versorgen. Ein Treffen dieser Guilde war für diesen bestimmten Abend um acht Uhr angesetzt worden. Mrs. Barklay hatte sich mit dem Abendessen beeilt, um rechtzeitig zu ihrem Treffen zu kommen. Der Kutscher sagte aus, er habe gehört, wie sie zum Abschied eine allgemeine und beruhigende Bemerkung ihrem Mann gegenüber machte, daß sie rechtzeitig wieder zu Hause sei. Sie klingelte dann bei Miss Morris, einer jungen Dame aus einer benachb arten Villa, um sie abzuholen und gemeinsam mit ihr zu diesem Treffen zu gehen. Die Veranstaltung dauerte vierzig Minuten. Um viertel nach neun kehrte Mrs. Barklay heim, nachdem sie Miss Morris an die Haustür gebracht hatte.
Ein bestimmtes Zimmer in >Lachine< wird allgemein als Frühstückszimmer benutzt. Dies Zimmer ist der Straße zu gelegen, und man kann durch eine große doppelte Glastür auf den Rasen gelangen. Diese Rasenfläche ist an die dreißig Meter breit. Eine kleine Mauer, auf der ein Eisengitter angebracht ist, trennt sie von der Straße. In dieses Zimmer ging Mrs. Barklay, nachdem sie heimgekommen war. Die Vorhänge wurden nicht zugezogen, denn dieser Raum wurde selten am Abend benutzt. Aber Mrs. Barklay zündete eine Lampe an, klingelte nach ihrem Mädchen und gab ihm den Auftrag, ihr eine Tasse Tee zu bringen. Jane Steward ist der Name des Mädchens. Das tat sie sonst nie. Der Colonel hatte im Wohnzimmer gesessen, als er jedoch hörte, daß seine Frau zurückgekehrt war, ging er zu ihr in den Frühstücksraum. Der Kutscher sah noch, wie er durch die Halle ging und das Frühstückszimmer betrat, aber nachher wurde er nicht wieder
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