Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
dass er während seiner endlosen Monologe um Mitternacht, um eins, zwei, drei, vier Uhr kein bisschen müde gewesen war. So als ob eine himmlische Hand für dieses wichtige Kundengespräch seine innere Uhr um zwölf Stunden verdreht hätte.
Er schloss die Haustür auf und warf aus alter Gewohnheit einen Blick zum Nachbarhaus, um die alte Frau Wettner zu grüßen, falls sie zufällig gerade aus dem Fenster sah (die Wahrscheinlichkeit, dass dies der Fall war, lag bei etwa neunzig Prozent). Dabei fiel sein Blick auf die aufgehende Sonne, und er kniff die Augen zusammen und wandte sich ab. Es sollte ja ungesund sein, direkt in die Sonne zu sehen, sehr ungesund, und jetzt merkte er, dass es auch ziemlich schmerzhaft war. Also hatten die Mediziner hier doch recht mit ihren nimmermüden Empfehlungen. Er nahm sich vor, diese Erfahrung künftig zu beherzigen. Vom Urlaub in Dänemark vorletzten Sommer musste doch noch irgendwo eine Sonnenbrille herumliegen?
Erleichtert trat er ins Haus, hier war es nicht so grell, hier konnte er sich ganz dem Gefühl des Triumphs hingeben, das er sich bis zuhause aufgespart hatte.
Er hatte den Auftrag.
Irgendwann zwischen zwei und drei Uhr morgens hatte sie ihn unterschrieben, aber weil er gerade so schön am Reden war und die Chemie zwischen ihnen dreien einfach zu stimmen schien, hatte er weitererzählt, gerade war es um die Möglichkeit der Iris-Erkennung gegangen, und er hatte sich so innovativ und erfolgreich gefühlt, dass er erst wieder um Viertel nach fünf auf die Uhr gesehen hatte.
Er ging ins Wohnzimmer, öffnete den Spirituosenschrank, holte ein Sherryglas aus dem oberen Regal und öffnete den Matusalem , eine dreißig Jahre alte Spezialität aus der andalusischen Kelterei Gonzales Byass, dem Anlass mehr als angemessen. Mit einem dumpfen Ploppen holte er den Korken aus der Flasche, roch dieses Aroma, bei dem er immer an uralte Weinkeller und mediterrane Altmännertreffen auf der avenida denken musste – und stieß den Korken wieder in den gläsernen Hals hinein. Heute nicht. Er bewunderte nach wie vor die Menschen, die eine solche Delikatesse herstellen konnten, aber gerade war ihm irgendwie nicht danach. Lieber etwas anderes. Aber was?
Er beschloss, das Problem zu vertagen und nur noch einen Moment in sein Arbeitszimmer zu gehen, um E-Mails abzufragen, bevor er sich ins Bett legen würde.
Lea hatte ebenso wenig geschlafen wie er. Sie lag wach in ihrem Bett, als er nach Hause kam. Statt ihrer nass gewordenen Kleider trug sie nun den blauen Frottee-Morgenmantel, die Haare hatte sie auf Kissen und Decke ausgebreitet, um sie zu trocknen.
Das Knarren der hölzernen Treppenstufen riss sie aus ihren Gedanken. Sofort waren die Wut und die Verzweiflung wieder da, die Rücklichter eines Ford Taunus, der um die Ecke verschwand, der leere Parkplatz und der einsame Weg in die Dunkelheit. Der kalte Nieselregen, die Vorwürfe ihrer Mutter, die schlaflose Nacht. Seinetwegen.
Sie stand auf und schritt zu seinem Büro – dem einzigen Zimmer im Obergeschoss, das kein Schlafzimmer war. Oben sollten nur die ruhigen Dinge stattfinden, Schlafen und Arbeiten, gelebt wurde im Erdgeschoss.
Mit festem Griff umfasste sie die Türklinke. Sie zögerte eine Sekunde, weil sie erwartet hatte, unter dem Türspalt hindurch das Licht des anbrechenden Tages zu sehen, das zu ihr in den fensterlosen Flur strömte; da das nicht der Fall war, zog sie kurz in Betracht, sie könne sich geirrt haben, er sei gar nicht die Treppe hinaufgekommen, sitze jetzt nicht dort drin, die Jalousien seien noch geschlossen – aber da hörte sie das allgegenwärtige Klappern der Computer-Tastatur von drinnen, sie drückte ihre rechte Hand kräftig nach unten und ließ die Klinke los, die mit metallischem Knall in ihre Ausgangsposition zurückfederte. Die Tür schwang einige Zentimeter auf, gerade genug, um den Blick auf sein überraschtes Gesicht freizugeben. Das zufriedene Lächeln erstarb im selben Moment, als er sie sah.
„Du warst nicht da“, sagte sie leise.
Er blickte zu Boden, blinzelte, kaute auf seiner Unterlippe. „Ich hätte es geschafft, wenn nicht ...“
„Ich weiß. Diese Diskussion hatte ich schon mit Ma.“
„Es tut mir leid.“
„Ist das alles, was du mir noch zu sagen hast?“
„Ich kann es dir erklären, wenn du möchtest.“
„Oh, vielen Dank. Mein Vater, der Held, erklärt mir die Welt! Das war mal. Ich will keine Erklärungen mehr, ich bin alt genug, ich verstehe, wie die Welt
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