Das rote Band
Schein einer Kerze saß Ian am Schreibtisch in der Bibliothek und rieb sich die Augen. Nur noch ein Schriftstück, dann konnte er für heute Schluss machen. Durch die Zwischenprüfung und das Weihnachtsfest war viel Schreibarbeit und Korrespondenz liegengeblieben, die dringend erledigt werden musste. Seit dem Überfall der Söldner waren drei Wochen vergangen, und eigentlich hatte er gedacht, Jake wäre nach diesem Zeitraum längst genesen. Doch im Nachhinein hatte es sich als schwerer Fehler erwiesen, dass der Earl beim Prüfungsbankett teilgenommen hatte. Jake hatte einen Rückschlag erlitten, und Joanna hatte sich die größten Vorwürfe gemacht, ihren Bruder die Erlaubnis zum Aufstehen erteilt zu haben. Galad, der geplant hatte, gleich nach der Prüfung nach Lionsbridge zu reisen, hatte aus lauter Sorge um Jake seine Abreise verschoben. Erst nach den Weihnachtsfeiertagen, als sich Jakes Zustand besserte, war er bereit gewesen, seinen Freund zu verlassen.
Ian seufzte. Und so war es an ihm, sich den Papierstapeln auf dem Schreibtisch anzunehmen. Natürlich half ihm Joanna, aber, da sie neben ihren Pflichten als Burgherrin nun auch Jakes repräsentative Aufgaben übernommen hatte, war ihre Zeit ebenfalls knapp. Gähnend griff er nach dem nächsten Schreiben und stellte fest, dass es eine Rechnung war. Trotz seiner Müdigkeit versuchte er, sich zu konzentrieren und die Zahlenkolonnen richtig zusammenzurechnen. Plötzlich hörte er, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde und jemand die Bibliothek betrat. Verdammt , fuhr es ihm durch den Kopf, ohne den Blick von dem Papier zu lösen. Das war Joanna! Er hatte ihr versprochen, heute früher aufzuhören. Doch inzwischen musste es schon weit nach Mitternacht sein. „Ich komme gleich zu dir ins Bett“, sagte er schuldbewusst, während er das Ergebnis seiner Berechnung niederschrieb.
„Das muss nicht unbedingt sein“, antwortete ihm eine amüsierte Männerstimme.
Ians Kopf flog hoch.
Am Türrahmen lehnte Jake. „Es würde mir vollkommen ausreichen, wenn wir uns zusammen vor den Kamin setzen“, fuhr der Earl fort.
Ian stand auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. „Brauchst du Hilfe?“, fragte er Jake.
„Nein, fang mir nicht an wie Galad! Ich habe nicht vor, demnächst das Zeitliche zu segnen.“ Jake ging zum Kamin, doch Ian fiel auf, dass der Earl langsam lief und froh zu sein schien, als er wieder Platz nehmen konnte.
Ian ließ sich ebenfalls auf einem Sessel nieder und betrachtete Jake. Er hatte ihn noch nie so nachlässig gekleidet gesehen. Der Earl of Greystone trug ein weites, weißes Hemd, dessen oberste Knöpfe nicht geschlossen waren. Die Hose sah eher bequem als elegant aus, und seine Haare waren offen, sodass seine braunen Locken wirr um seinen Kopf herumsprangen.
Jake schien seine verwunderten Blicke nicht zu bemerken. Stattdessen sah er sich in der Bibliothek um und machte eine Handbewegung Richtung Schreibtisch. „Wie kommst du mit allem zurecht?“
„Es ist viel Arbeit, jetzt wo Galad in Lionsbridge ist. Ich bemühe mich jeden Abend, alle Briefe zu bearbeiten, nur um am nächsten Abend wieder einen turmhohen Stapel vorzufinden, und dazu kommen noch die vielen Aufgaben des Tages.“ Ian sah Jake an. „Jetzt verstehe ich, warum du oft so schlechte Laune hattest.“
Jake lachte leise. Dann wandte er sich von ihm ab und starrte ins Feuer. Es dauerte eine Weile, bis der Burgherr wieder zu sprechen anfing. „Seit ich Earl bin, war das mein schlimmster Albtraum: Jemand anderen hinter meinem Schreibtisch sitzen zu sehen.“
„Ich mache das hier nur, bis du wieder gesund bist“, erwiderte Ian. „Du darfst deinen Schreibtisch gerne behalten.“
Jake schüttelte den Kopf. „Nein, denn der Viscount of Adcoque hat ganze Arbeit geleistet. Der König weiß von meinem Verhältnis zu Galad, und er kann und wird keinen Earl dulden, der eine Beziehung zu einem Mann unterhält. Zur Strafe wird er mich meines Titels entheben.“
Beunruhigt rutschte Ian auf der Kante des Sessels nach vorne. „Aber was passiert dann mit Greystone?“
„Nach dem traditionellen Recht würde die Burg meinem Cousin zufallen“, erwiderte Jake. „Doch das Vorhandensein der Akademie verändert alles. Die anderen Gründungsmitglieder haben sich seit jeher gegen meinen Cousin als Nachfolger ausgesprochen, und ihr Wort hat so viel Gewicht, dass selbst der König darauf Rücksicht nehmen muss.“
„Und wer würde dann nach dir Earl of Greystone und Leiter der
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