Das rote Band
Wohl.“
23
Greystone, Dezember
„Wo ist eigentlich der Viscount of Adcoque?“ Lady Claudine sah ihre Freundin Violett, mit der sie zusammen im Festsaal von Greystone stand, fragend an. „Ich habe ihn den ganzen Abend noch nicht gesehen. Als Stiftungsmitglied war er doch immer bei diesem Bankett am vorletzten Tag der Prüfungswoche anwesend. Oder kommt er erst morgen früh zur Fechtprüfung?“
Violett lächelte milde. „Deine Unkenntnis ist mal wieder erschreckend, meine Liebe. Adcoque weilt in Delaria.“
„Delaria?“, wiederholte Claudine. „Was hat er dort zu suchen?“
„Nun, das Gleiche, was zurzeit jeder Adlige tut, der etwas auf sich hält: Geschäfte mit Bürgerlichen.“
Claudine schnaubte. „Eine Unsitte!“ Empört sah sie sich im Festsaal um. Nach einer Weile bemerkte sie spitz: „Der Earl of Greystone hat auch schon besser ausgesehen. Aber kein Wunder, seine Vorlieben im Bett sind mittlerweile ein offenes Geheimnis.“
Ihre Freundin folgte ihrem Blick. „Ja, der Burgherr ist sehr blass. Aber wohl nicht deswegen, sondern weil er aus dem Kampf mit den Söldnern eine schwere Verletzung davongetragen hat.“
„Richtig, diese Gerüchte habe ich auch gehört.“ Claudines Gesicht nahm einen scheinheiligen Ausdruck an. „Ist es eigentlich wahr, dass der stattliche rothaarige Lord, der Lady Joanna zu deinem siebzigsten Geburtstag begleitete, auch zu dieser Bande gehört hat?“
„Was?!“ Violett sah sie pikiert an. „Wenn das stimmt, muss das ein entsetzlicher Schock für Lady Joanna gewesen sein! Aber ich ahne schon“, fuhr sie abfällig fort, „in wessen Armen sie sich getröstet hat.“
„Falls du auf den ehrlosen Fechtmeister anspielst, er scheint sein Herz heute Abend an eine andere Dame verloren zu haben.“ Claudine wies auf die Tanzfläche, wo Ian sich mit einer Frau zu den Takten der Musik bewegte. „Man sagt, er habe sich im Kampf gegen die Söldner sehr hervorgetan und damit das Leben der entführten Studenten gerettet.“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Diese ruhmhafte Tat lässt wohl die eine oder andere Lady seine Ächtung vergessen.“
„Da hast du sicher recht“, stimmte Violett ihr zu, „allerdings beantwortet das immer noch nicht die Frage, wer seine Tanzpartnerin ist!“
Wer war diese Lady? Mit zusammengezogenen Brauen starrte Eloïse in die Mitte des Festsaales, wo Ian schon den vierten Tanz mit der unbekannten Dame tanzte. Joanna, die sich in einer Ecke mit Lord Tennison unterhielt, schien er vollkommen vergessen zu haben. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich der zierlichen, schwarzhaarigen Frau in seinen Armen. Das Ganze gefiel Eloïse nicht. Sie überlegte bereits, zu Joanna zu gehen, als die Musik endete und Ian mit der fremden Lady am Arm auf sie zukam. Die beiden bleiben vor ihr stehen, und Ian übernahm die Vorstellung.
„Eloïse, darf ich bekannt machen: Charlotte of Darkwood, meine Schwester.“ Er grinste, als er sah, wie ihre Wangen sich rot färbten. „Und das ist Eloïse of Coldhill.“
Eloïse neigte den Kopf . Ians Schwester, das erklärte natürlich alles! „Ist dein Bruder auch hier, Ian?“, fragte sie schnell, bevor auch noch Lady Charlotte ihre falschen Schlussfolgerungen erriet.
„Nein“, erwiderte Lady Charlotte an Ians Stelle. „Ronen ist in Delaria und ist dort gerade unabkömmlich, was er sehr bedauert.“
Eloïse sah zu Ian, dessen Gesicht sich verdunkelt hatte. Während seines Fiebers hatte er manchmal über seinen Bruder gesprochen. Seine Worte waren undeutlich gewesen, doch sie hatte immerhin so viel verstanden, dass zwischen den beiden Brüdern Spannungen bestanden, die sich scheinbar immer noch nicht gelöst hatten.
„Charlotte, Eloïse, würdet ihr mich bitte entschuldigen?“ Ian wies auf die andere Seite des Saales, wo Lord Lionsbridge stand. „Galad hat mir gerade ein Zeichen gegeben. Ich glaube, er möchte mit mir sprechen.“ Er nickte ihnen zu und entfernte sich.
„Wenn Ihr nichts dagegen habt, Lady Eloïse“, sprach Lady Charlotte sie an, „würde ich Euch gerne Gesellschaft leisten, bis jemand Euch zum Tanzen auffordert.“
„Sehr gerne“, antwortete Eloïse erfreut, „aber vermutlich steht Ihr dann den ganzen Abend bei mir, denn es wird niemand mit mir tanzen wollen.“
Lady Charlotte sah sie mitfühlend an.
„Das ist nicht schlimm“, erklärte Eloïse, „ich tanze sowieso nicht gerne.“
„Ich bin auch keine begehrte Tanzpartnerin“, gab Ians Schwester zu. „Ich bin zu
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