Das rote Band
Greystone vorgefallen ist, doch nur, wenn ich nicht tanzen muss!“
Laurentin lachte. „Eine hervorragende Idee, vor allem, da gerade die Nachspeisen aufgetragen werden. Ich besorge uns Schmalzgebäck und Wein, dann reden wir.“
Am nächsten Morgen war die Tribüne in der Waffenhalle trotz der frühen Stunde bis auf den letzten Platz besetzt. Eloïse atmete tief ein, dann schritt sie auf die Kampffläche, den Degen in ihrer Hand fest umklammert. Schweigen senkte sich über die Zuschauerränge, und ihr war nur zu klar, was alle Anwesenden dachten. Eine adlige Frau, die eine offizielle Fechtprüfung ablegte, das hatte es noch nie gegeben! Eilig schaute sie sich um und suchte Ians Blick. Er stand am Rande des gekennzeichneten Kampffeldes und nickte ihr aufmunternd zu. Für einen Moment schloss Eloïse die Augen. Sie tat es für Coldhill, für ihren Bruder und für Ian, der sich stets so vehement für sie eingesetzt hatte. Was die anderen über sie denken mochten, war ohne Belang, denn ihr Ruf war sowieso ruiniert. Sie hatte den Kampf mit den Söldnern überstanden, und sie würde auch diese Prüfung überstehen. Langsam öffnete sie die Augen wieder, und ihr Blick schweifte wider besseren Wissens ein letztes Mal durch die Halle, doch Victorian war nicht da. Ian hatte ihr heute beim Frühstück mitgeteilt, dass der junge Lord of Walraven am Vorabend die Akademie ohne Angabe von Gründen verlassen hatte. Aber warum? Und ohne sich von ihr zu verabschieden?
Der Leiter der Prüfungskommission ließ ein ungeduldiges Räuspern hören, und Eloïse schob alle Gedanken beiseite. Jetzt musste sie als Allererstes diesen Kampf überstehen, bevor sie sich weiter mit Victorians Verschwinden beschäftigen konnte. Sie straffte die Schultern und trat auf ihren Gegner zu, der etwas irritiert zu sein schien, dass statt eines jungen Mannes mit einem Schwert eine Lady mit einem Degen vor ihm stand. Sie grüßte ihn vorschriftsgemäß und nahm die Anfangsposition ein. Er erwiderte ihren Gruß, hob seinen Degen und begann den Kampf. Eloïse sah seine Waffe auf sich zuschnellen, und eine merkwürdige Ruhe überkam sie. Jegliches bewusste Denken erlosch, und ihr Körper führte die Bewegungen scheinbar von selbst aus. Alle Gefühle, alle Angst fielen von ihr ab, und wie durch einen Nebelschleier reagierte sie auf die Attacken ihres Gegners, so, wie sie es schon tausendfach zuvor geübt hatte. Nur am Rande drangen das staunende Gemurmel der Zuschauer und die begeisterten Rufe ihrer Mitstudenten zu ihr durch. Als der Gong ertönte und das Ende des Kampfes signalisierte, senkte Eloïse fassungslos ihren Degen. Sie hatte es geschafft! Sie war nicht gestürzt, sie hatte den Degen nicht verloren, und ihr Gegner hatte sie nicht besiegt!
„Komm, Eloïse, du musst zum Tisch der Kommission gehen.“ Ian war zu ihr getreten und führte sie von der Kampffläche. Sein zufriedener Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass sie auch vom Prüfungsgremium nichts Schlimmes zu erwarten hatte.
„Eloïse of Coldhill“, der Leiter der Kommission, ein alter Viscount, hatte sich erhoben. „Uns sind die ungewöhnlichen Umstände Eures Akademiebesuchs bekannt, und wir haben auf Bitten des Earls of Greystone eine einmalige Ausnahme für Euch bei dieser Fechtprüfung gemacht.“ Ein kurzes Lächeln erschien auf seinem faltigen Gesicht. „Mylady, Ihr habt uns eben bewiesen, dass Ihr einen Degen zu führen versteht, und habt somit die Prüfung bestanden.“
Eloïse nickte zaghaft, denn sie konnte es selbst kaum glauben. Tränen brannten in ihren Augen, und ein Zittern überlief ihren Körper. Sie würde die Akademie nicht verlassen müssen, sie durfte ihr Studium bis zum Schluss fortsetzen!
„Gut gemacht, Kleine!“, hörte sie Ians Stimme an ihrem Ohr, dann spürte sie Joanna neben sich, die sie sanft, aber bestimmt in Richtung der Tribüne schob. Vollkommen willenlos folgte sie der Burgherrin und ließ sich mit ihr zusammen auf der untersten Stufe der Zuschauerränge nieder. Monatelange Zweifel, Furcht und Unsicherheit fielen von ihr ab, und Erleichterung machte sich in ihr breit. In einem Anflug von Freude schlang sie die Arme um Joanna, die die Umarmung lächelnd erwiderte. Dankbar drückte Eloïse die Freundin an sich und schluckte die Enttäuschung, dass Victorian diesen Moment des Glücks nicht mit ihr teilen konnte, hinunter. Für sein überhastetes Fortgehen gab es sicher eine gute Erklärung, und er würde bestimmt bald von sich hören lassen.
Im
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