Das Rote Kornfeld
«Wohin?» murmelte der. «Wohin können wir gehen?» Vater nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Feld. Sie gingen verschlungene Pfade, als sei ihr Ziel der Mond, der hoch und eiskalt am Himmel hing.
Im Leichenfeld erklang das Knurren wilder Tiere. Großvater und Vater blieben erschreckt stehen, drehten sich um und sahen Dutzende von grünen Augenpaaren wie Irrlichter und blaue Schatten, die sich auf dem Boden rollten und wälzten. Großvater zog die Pistole, zielte auf eines der grünen Augenpaare und feuerte. Im Mündungsfeuer erloschen die Augen, und der Todesschrei eines Hundes klang durch das Hirsefeld. Großvater gab insgesamt sieben Schüsse ab, und ein paar verwundete Hunde wanden sich zwischen den anderen Leichen im Todeskampf. Nachdem er das Magazin seiner Pistole in die Meute geleert hatte, sprangen die unverwundeten Hunde außer Schussweite ins Hirsefeld und bellten Großvater und Vater wütend an.
Die letzten paar Kugeln aus Großvaters Selbstlader legten nur eine Strecke von etwa dreißig Schritten zurück, bevor sie zu Boden fielen. Im Mondlicht sah Vater sie so langsam durch die Luft fliegen, dass er sie mit den Händen hätte auffangen können. Das Knacken der Pistole hatte seine federnde Frische verloren und klang eher nach dem verschleimten Husten eines alten Mannes. Ein gequält mitleidiger Ausdruck überzog das Gesicht von Großvater, der die Waffe in seiner Hand anblickte.
«Keine Munition mehr?» fragte Vater.
Die fünfhundert Schuss Munition, die sie im Bauch des Ziegenbocks aus der Stadt mitgebracht hatten, waren in wenigen Stunden verbraucht. Wie ein Mensch war die Pistole über Nacht alt geworden, und Großvater kam zu der schmerzhaften Einsicht, dass sie seinen Wünschen nicht mehr gehorchen konnte. Es war Zeit, sich von ihr zu trennen.
Er streckte den Arm aus und studierte den gedämpften Widerschein des Mondes auf dem Pistolenlauf. Dann ließ sein Griff nach, und die Waffe fiel zu Boden.
Die grünäugigen Hunde kehrten, zunächst noch ängstlich, die Furcht in den Augen, zu den Leichen zurück. Doch die Augen verschwanden schnell, und jetzt spiegelte sich das Mondlicht in rollenden Wogen von bläulichem Fell. Großvater und Vater konnten hören, wie die Hunde menschliche Körper zerrissen.
«Gehen wir ins Dorf, Vater», sagte Vater.
Großvater schwankte einen Augenblick, also zupfte Vater ihn am Ärmel, und er folgte ihm.
Inzwischen waren die meisten Feuer im Dorf erloschen und hatten rotglühende Asche hinterlassen, die zwischen den einstürzenden Wänden und zerstörten Häusern beißende Hitze ausstrahlte. Ein heißer Wirbelwind wehte durch die Straßen des Dorfs. Die dicke, trübe Luft war erstickend, weißer und schwarzer Rauch zog sich zu Wolken zusammen, verkohlte Äste knackten und knisterten in den ausbrennenden Feuern. Die Dächer der Häuser, deren Stützbalken den Flammen zum Opfer gefallen waren, stürzten zusammen und sandten Berge von Rauch, Staub und Asche zum Himmel. Auf der Dorfmauer und auf den Straßen lagen die Leichen. In der Geschichte unseres Dorfs war eine neue Seite aufgeschlagen. Vor langer Zeit war es eine von Ranken, Buschwerk und Schilf bestandene Einöde gewesen, ein Paradies für Füchse und wilde Kaninchen. Dann waren irgendwann einmal ein paar Hütten aufgetaucht, und der Ort wurde zur Zufluchtsstätte für flüchtige Mörder, Trinker und Spieler, die Häuser bauten, das Land bestellten, den Ort in ein Paradies für Menschen verwandelten und die Füchse und wilden Kaninchen vertrieben, die wütend dagegen protestierten. Jetzt lag das Dorf in Schutt und Asche. Menschen hatten es geschaffen, und Menschen hatten es zerstört. Als sich 1960 die dunkle Wolke der Hungersnot über die Shandong-Halbinsel senkte, konnte ich, auch wenn ich erst vier Jahre alt war, dunkel begreifen, dass die Gemeinde Nordost- Gaomi schon immer ein Ruinenhaufen gewesen war und dass ihre Bürger die Ansammlung zerstörter Häuser nie aus ihren Herzen weggeräumt hatten und es auch in Zukunft nicht tun würden.
Nachdem in jener Nacht der Rauch und die Funken aus den anderen Häusern erstorben waren, brannten die Gebäude unseres Gehöfts immer noch und sandten grüngeränderte Flammenzungen und den berauschenden Duft von starkem Branntwein in den Himmel, den die Flammen nach so vielen Jahren in einem Augenblick freigesetzt hatten. Von der Hitze verformte blaue Dachziegel wurden dunkelrot und sprangen durch einen Flammenvorhang, der Großvaters graues Haar beleuchtete, in
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