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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Stufen hoch und bezogen Stellung.
    Der Zeremonienmeister hob die Stimme: «In Bereitschaft!»
    Die Menge drängte sich vor und reckte sich die Hälse aus, um einen Blick von dem zu erhaschen, was in der Mitte des Kreises vor sich ging. Hörner und Flöten nahmen das Kommando des Zeremonienmeisters auf. Die weiter hinten stehenden Zuschauer schoben sich in dichten Wellen nach vorn, und die klapprigen Tribünen fingen an, zu ächzen und zu schwanken. Erschreckt wirbelten die Musiker durcheinander und begannen zu schreien wie Dämonen, während sich die Ochsen und Esel, die man in der Nähe an Bäume gebunden hatte, lautstark über das Gedränge beschwerten.
    «Was jetzt, Schwarzauge?» erkundigte sich Großvater höflich.
    Schwarzauge kommandierte: «Nummer Drei, lass die Mannschaft antreten! »
    Wie durch Zauber tauchten etwa fünfzig mit Gewehren bewaffnete Soldaten der Eisengesellschaft auf und schoben die tobende Menge mit dem Gewehrlauf beiseite. Niemand konnte sagen, wieviel Tausende zur Beerdigung ins Dorf geströmt waren, und die erschöpften, schweißüberströmten Soldaten waren der Menge einfach nicht gewachsen.
    Schwarzauge zog seine Pistole und gab einen Schuss in die Luft ab. Dann feuerte er noch einmal über das Meer schwarzer Köpfe rund um sich. Als auch die Soldaten begannen, wie wild in die Luft zu feuern, zogen sich die vorderen Reihen der Menge zurück, die weiter hinten Stehenden pressten noch immer nach vorne, und die, die dazwischen gefangen waren, wussten nicht mehr wohin. Die Masse glich einer sich windenden schwarzen Raupe. Brüllende Kinder wurden zu Boden gerissen. Die Tribünen begannen sich wie in Zeitlupe zu neigen, und schreiende Musiker flogen Hals über Kopf durch die Luft und stürzten dann in die Menge. Ihr Schreien und die erschreckten Rufe der Menschen, die fürchteten, zu Tode getrampelt zu werden, vereinten sich zum durchdringendsten Schrei in einer Sturmflut chaotischen Gebrülls. Ein in der Menge eingekeilter Esel reckte den Nacken und hob den Kopf, als sei er im Treibsand gefangen. Augen so groß wie Gänseeier quollen wie Bronzeglocken aus dem Kopf und starrten die Menschen mit mitleiderregendem blauem Blick an. Mindestens ein Dutzend Alte und Kranke wurden im Gedränge totgetreten, und noch Monate später sammelten sich Fliegenschwärme um das faulende Aas von Ochsen und Eseln.
    Schließlich gelang es den Soldaten, des Tumults Herr zu werden. Angstschreie von Frauen außerhalb der Menschenmenge bildeten den Kontrapunkt zu den Musikfetzen, wie sie die unglücklichen Musiker ertönen ließen, sobald sie wieder auf den Tribünen angelangt waren. Die meisten Zuschauer erkannten, dass es sinnlos war, sich in den Mittelpunkt des Geschehens vordrängen zu wollen, und wandten sich dem Dorfrand zu, wo sie am Rand der Straße zum Begräbnisplatz auf den Trauerzug warteten. Der gutaussehende Reiterführer Wuluan ließ seinen Trupp die Straße patrouillieren und für Ordnung sorgen.
    Schwer erschüttert stand der Zeremonienmeister auf seinem Schemel und rief: «Kleinerer Baldachin!»
    Zwei Soldaten der Eisengesellschaft mit weißen Schärpen trugen einen kleinen himmelblauen Baldachin heran. Er war rechteckig, einen Meter hoch, in der Mitte gefaltet, und die Außenseiten waren aufgerollt wie Drachenköpfe. Blutfarbene Glasmosaiken schmückten seinen obersten Bogen.
    « Seelentafel, bitte!» rief der Zeremonienmeister.
    Mutter hat mir einmal erklärt, dass eine Seelentafel nichts anderes ist als eine Ehrentafel für den Geist des Verstorbenen. Später habe ich durch eigene Nachforschungen herausgefunden, dass die Seelentafel in Wirklichkeit den sozialen Rang des Verstorbenen zum Zeitpunkt der Beerdigung anzeigte und nichts mit seinem Geist zu tun hatte. Man nannte sie auch Geistertafel. Sie wurde unter den Flaggen der Ehrengarde dem Trauerzug vorangetragen. Großmutters ursprüngliche Seelentafel war beim Zeltbrand in Flammen aufgegangen, und die schwarze Farbe auf der Ersatztafel, die zwei schmucke Soldaten der Eisengarde trugen, war noch nass. Die Inschrift lautete: «Geboren zur Stunde des Drachen am fünften Tag des fünften Monats im zweiunddreißigsten Regierungsjahr des Kaisers Guangxu der Großen Qing-Dynastie. Gestorben zur Stunde des Pferdes am neunten Tag des achten Monats im achtundzwanzigsten Jahr der chinesischen Republik. Tochter der Familie Dai, Mädchenname Xingfan, Ehefrau des Kommandanten der Widerstandsarmee Yu Zhan’ao in der Gemeinde Nordost-Gaomi, Republik China,

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