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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Anführer der Eisengesellschaft. Alter zum Zeitpunkt des Todes : zweiunddreißig Jahre. Begraben unter dem Yang des Weißen Pferdebergs und dem Yin des Schwarzwasserflusses.»
    Großmutters Seelentafel schmückten drei Fuß weißes Flaggentuch, die ihr Anmut und Würde verliehen. Die Soldaten der Eisengesellschaft stellten sie sorgfältig unter dem kleineren Baldachin auf. Dann nahmen sie neben dem Baldachin Haltung an.
    Der Zeremonienmeister rief: «Großer Baldachin!»
    Die Bläser und Trommler stimmten eine neue Melodie an, und vierundsechzig Soldaten der Eisengesellschaft trugen den großen scharlachfarbenen Baldachin, der mit blauen Kronen so groß wie Wassermelonen geschmückt war, an den Sarg. Die vierundsechzig Mann marschierten zum Rhythmus eines Messinggongs, den ein Offizier der Eisengesellschaft dem Zug voraustrug, in langsamem Marschschritt. Das leise Murmeln der Zuschauer verstummte, und nichts war mehr zu hören außer den klagenden Weisen der Pfeifen und Flöten und den entsetzten Schreien der Mütter, deren Kinder im Tumult zertrampelt worden waren. Unter den Klängen von Totenmusik und Klageschreien bestaunten die Zuschauer mit weit aufgerissenen Augen den großen Baldachin, der eindrucksvoll wie ein Tempel an ihnen vorbeizog. Feierliche Stimmung breitete sich aus.
    Die ganze Zeit kreiste eine einzelne Bremse um Großvaters verletzten Arm und versuchte, an das geronnene Blut heranzukommen. Wenn er nach ihr schlug, floh sie und kreiste mit wütendem Surren um seinen Kopf. Bei dem Versuch, sie totzuschlagen, schlug er daneben und traf seinen verwundeten Arm so kräftig, dass er sich anfühlte wie mit Nadeln gespickt. Schwankend näherte sich der große Baldachin Großmutters Sarg. Das Rot des Untergrunds und das Blau der Kronen standen in einem Verhältnis vollkommener Harmonie. Tang ! Tang ! Tang ! Der traurige Klang des Gongs ergriff die Herzen der Menschen und weckte in Großvater ein Knäuel verwirrter Erinnerungen aus einer unsteten Vergangenheit.
    Als er den widerlichen Mönch ermordet hatte, war er erst achtzehn gewesen. Danach hatte er aus der Heimat fliehen und jahrelang in allen Himmelsrichtungen umherirren müssen. Im Alter von einundzwanzig Jahren war er in die Gemeinde Nordost- Gaomi zurückgekehrt und hatte, um seinen Hunger zu stillen, als Sarg- und Sänftenträger bei der Hochzeits- und Beerdigungsgesellschaft zu arbeiten begonnen. Damals hatte er alle Qualen der menschlichen Gesellschaft kennengelernt und die Schande erduldet, in rot-schwarzen Hosen die Straße fegen zu müssen. Sein Herz war so hart wie eine Fischgräte und sein Körper so stark wie der eines Gorillas, und so hatte er es geschafft, zu einem gefürchteten Banditen zu werden. Er wusste, dass das Leben eines Sänftenträgers kein Honigschlecken ist, aber bis heute hatte er die Demütigung nicht vergessen können, die ihm widerfuhr, als er 1920 in der Stadt Jiao im Haus der Akademikerfamilie Qi geohrfeigt wurde.
    Erinnerungen an die Vergangenheit lenkten seine Gedanken von der vertrackten Bremse ab, die ihn sonst fast zum Wahnsinn getrieben hätte. Sie nutzte die Gelegenheit, landete auf dem blutgetränkten weißen Verband über der Wunde und verbreitete weißen Schaum über die Stelle, an der sie das faulige salzige Blut aufsog.
    Goldene Sonnenstrahlen fielen auf die Musiker auf den Tribünen. Ihre Backen blähten sich auf wie kleine Gummibälle, als sie vor sich hin flöteten und trompeteten. Der Schweiß lief ihnen vom Gesicht über Hals und Nacken, und Speicheltropfen, die an den gewundenen Metall- und Holzpfeifen entlanggelaufen waren, hingen in labilem Gleichgewicht an den Hörnern und Flöten. Die Leute standen auf den Zehenspitzen, um die Beerdigung besser beobachten zu können, und Blicke aus Hunderten von Augenpaaren fielen wie neugierige Mondstrahlen auf die echten Menschen und die Papiertiger im Mittelpunkt des Kreises. Diese Blicke waren ebenso auf Zeichen einer alten, strahlenden Kultur wie auf die Überbleibsel einer rückständigen, reaktionären Ideologie gerichtet.
    Vater stand im Schnittpunkt der Strahlen aus zahllosen bösartigen Augen, die ihn umgaben. In seinem Herzen hingen wie purpurrote Trauben Perlenschnüre des Abscheus, und seine Schmerzen bildeten farbig bunte Regenbogen. Er trug dicke, weiße, knielange Trauerkleidung, die in der Hüfte von grauem Hanf zusammengehalten wurde, und ein viereckiger Trauerhut bedeckte seine ausrasierte Stirn. Der säuerliche Schweißgeruch der Menge und der

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