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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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zurück und rannte panisch und ziellos rund um die Kanten des Grabs. Voll Abscheu schleuderten die Soldaten einen wahren Hagel von Erdklumpen auf die weiße Maus, bis sie zerschmettert mitten im Grab lag. Vater überkam Reue, als die schweren Klumpen auf die letzte Schicht von Hirsestengeln trafen. Er hatte den ersten Klumpen geworfen, aber als die Soldaten seinem Beispiel folgten, hatten die meisten ihrer Geschosse nicht die Maus, sondern Großmutter getroffen.
    Nach Vaters Bericht stieg Großmutter wie im Märchen aus ihrem strahlenden, duftenden Grab auf, so lieblich wie eine Blume. Aber die Soldaten der Eisengesellschaft verzogen jedes Mal das Gesicht, wenn das Gespräch auf das Thema kam, und beschrieben bis in die letzte Einzelheit den grauenhaften Anblick, den Großmutters Leiche bot, und den erstickenden Gestank, der aus dem Grab drang. Vater nannte sie Lügner. Er war damals, wie er sich erinnerte, im Vollbesitz seiner Wahrnehmungskräfte, und als die letzten paar Hirsepflanzen entfernt wurden, ließ Großmutters süßes, wunderschönes Lächeln alles im Umkreis knistern, als zöge ein rasendes Feuer über das Land. Die tiefe Erinnerung an überwältigenden Wohlgeruch blieb zwischen seinen Lippen und seinen Zähnen lebendig. Er bereute nur, wie kurz dieser Augenblick gewesen war. Denn als man Großmutters Leiche aus dem Grab hob, verwandelten sich ihre glänzende Schönheit und ihr zarter Duft in einen Nebel, der sanft dahinschwand, und nur ein weißes Gerippe blieb zurück. Vater gab zu, dass in diesem Augenblick ein überwältigender Gestank an seine Nüstern drang, aber er wies die Vorstellung entschieden zurück, das Gerippe könne Großmutters Gerippe gewesen sein. So konnte der Gestank nichts mit ihr zu tun haben.
    Großvater sah niedergeschlagen aus. Nachdem sie die Leiche aus dem Grab gehoben hatten, liefen die sieben Soldaten der Eisengesellschaft ans Flussufer und erbrachen dunkelgrüne Galle in das dunkelgrüne Wasser. Großvater breitete ein weißes Tuch aus und legte mit Vaters Hilfe Großmutters Skelett darauf. Vom Geräusch des Erbrechens am Flussufer angesteckt, verspürte Vater einen Krampf im Nacken, wie ein Hahn, der krähen will, und abgehackte Geräusche drangen aus seiner Kehle. Der Gedanke, die abstoßenden weißen Knochen zu berühren, war ihm furchtbar.
    «Douguan», sagte Großvater, «willst du etwa sagen, die Knochen deiner eigenen Mutter seien etwas Schmutziges, das du nicht anfassen willst? Selbst du nicht?»
    Von dem tragischen Gesichtsausdruck seines Vaters berührt, neigte sich Vater vor und streckte vorsichtig eine Hand aus, um Großmutters weißen Schenkelknochen zu berühren. Der war so eisig, dass nicht nur sein Körper Kälte spürte, sondern selbst seine Eingeweide zu gefrieren schienen. Großvater wollte das Skelett an den Schulterblättern hochheben, aber es löste sich auf und fiel in einem Haufen zu Boden. Das lange schwarze Haar auf dem Schädel breitete sich über seine Füße aus. Ein paar rote Ameisen krochen mit zitternden Fühlern in den Höhlen umher, die einmal Großmutters feuchte Augen beherbergt hatten. Vater warf den Schenkelknochen von sich, drehte sich auf dem Absatz um und rannte laut aufheulend davon.
     
     
4
     
    Als mittags die Riten vollzogen waren, verkündete der Zeremonienmeister mit lauter Stimme: «Der Leichenzug kann beginnen!» Eine Flut von Trauergästen überschwemmte das Feld. Die Zuschauer, die schon seit dem frühen Morgen die Straßenränder säumten, um dem Zug zu folgen, sahen eine schwarze Menschenmenge aus der Stadt quellen. Es folgte die Bahre der Familie Yu, die sich wie ein schwimmender Eisberg langsam auf sie zubewegte. Zu beiden Seiten der Straße waren alle zweihundert Meter große offene Zelte errichtet, in denen Opfergaben als Wegeopfer ausgestellt waren. Warme Düfte, saure, süße, bittere und pfeffrige Gerüche, stiegen den Gästen in die Nase und machten ihnen den Mund wässrig. Reitertruppen unter dem Kommando von Wuluan galoppierten als Ehrengarde am Straßenrand entlang. Unter der glühenden Sonne, die genau im Zenit stand, und im schwarzen Staub, der sich über der Erde erhob, gerieten die Pferde ins Schwitzen. Sie spreizten die Nüstern, und Staub bedeckte den Schaum, der sich um ihre Mäuler sammelte. Ölig feuchte Flanken spiegelten die Sonnenstrahlen wider; schwarze Schollen wurden hoch in die Luft gewirbelt.
    Ein fetter Mönch in einer gelben Robe, die die linke Schulter und den Arm freiließ, führte den

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