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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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keine Beachtung schenkten. Inzwischen hatte man Großvater ans Fußende des Sargs versetzt, wo er eine der leichteren Tragstangen hielt. Sein Bauch brannte wie Feuer, seinen Mund füllte ein süßlich fauliger Geschmack. Pflastersteine flogen wie Talgspritzer durch die Gegend ...
     
     
3
     
    Vater, in Trauerkleidung und das Gesicht nach Südwesten gewandt, stand auf einer hohen Bank, schlug mit dem Gewehrkolben auf den Boden und rief:
    «Mutter! Mutter! Geh nach Südwesten! Eine breite Straße! Ein langes, langes Schatzschiff! Ein flinkes Reittier! Reichlich Reisegeld! Mutter! Mutter! Ruhe voll Süße! Lass deinen Schmerz!»
    Der Zeremonienmeister hatte ihm aufgetragen, das Abschiedslied dreimal zu singen. Denn nur die Stimme der Nächststehenden kann der Seele den Weg zum südwestlichen Paradies weisen. Aber er schaffte es nur einmal, bevor heiße, bittere Schmerzenstränen seine Stimme erstickten. Dann stand er unbeweglich, das Gewehr in der Hand, da. Noch einmal entfloh ein lang hingezogenes «Mutter» seinen Lippen, entfaltete sich in der Luft und glitt unsicher davon wie ein scharlachroter Schmetterling mit symmetrischen Goldglocken auf den Flügeln. Der Schmetterling flatterte nach Südwesten, wo die Wildnis weit war und die Luftströme wirbelten und wo das helle Sonnenlicht am achten Tag des vierten Monats voll Besorgnis einen weißen Schleier über dem Schwarzwasserfluß ausbreitet. Großmutters Seele konnte den Schleier der Illusionen nicht durchbrechen und nahm nach kurzem Zögern den Weg nach Osten, so innig Vater auch wünschte, sie ins Paradies des Südwestens zu senden.
    Aber Großmutter wollte nicht ins Paradies. Statt dessen folgte sie den Windungen der Böschung, brachte Großvaters Truppen Proviant und blickte meinen Vater, ihren Sohn, von Zeit zu Zeit aus goldenen Augen an. Hätte er sich nicht auf das Gewehr gestützt, er wäre umgefallen. Dann kam seltsamerweise Schwarzauge dazu und hob ihn von der Bank. Die liebliche Musik der Musikanten, der Geruch, der von der Menge ausging, und die glitzernden Begräbnisfahnen vereinten sich zu einem geisterhaften Dunst, der sich wie ein Tuch um seinen Körper und seine Seele wand.
    Zwanzig Tage zuvor war Vater mit Großvater zum Fluss gegangen, um Großmutters Leiche auszugraben. Es war kein guter Tag für die Schwalben gewesen, denn regenschwere Wolken hingen wie zerrissene Baumwollwatte niedrig im Himmel und verbreiteten den Geruch von verdorbenem Fisch und verfaulten Krabben. Ein böser Wind führte dunkle Luft am Schwarzwasserfluß entlang. Am Ufer lag das faulende Fleisch der Hunde, das die Handgranaten im vorigen Winter bei der Schlacht mit den Menschen zerrissen hatten, im trüben Ufergras. Die Schwalben, die auf ihrem Zug von der Insel Hainan den Fluss überquerten, empfanden Abscheu vor dem Aas. Unter ihnen begannen die Frösche ihr Paarungsritual. Schlanke, dunkle Körper sprangen und planschten im Wasser, als Liebesleidenschaft sie aus dem Winterschlaf riss.
    Als er den Schwalben und Fröschen zusah und auf die verkommene Holzbrücke über den Fluss schaute, die vom Leid des Jahres 1939 gezeichnet war, überkamen Vater Gefühle, die einer einsamen Wüste glichen. Dunkelhäutige Dorfbewohner, die den Winter über im Schlaf gelegen hatten, fingen an, Hirsesaat über die dunkle Erde zu streuen, und der helle Klang, wenn ihre Pflüge auf steinige Erdschollen stießen, hallte weit in die Ferne. Vater stand mit Großvater und neunzehn mit Hacken und Schaufeln ausgerüsteten Soldaten der Eisengesellschaft an Großmutters Grab, ganz am Anfang der langen Gräberreihe, in der Großvaters Männer ruhten. Über den schwarzen Gräbern zeigten bittere Kräuter ihre ersten goldenen Blüten.
    Drei Minuten Schweigen.
    «Douguan, bist du sicher, dass es dies hier ist?» fragte Großvater.
    «Das ist es», sagte Vater, «ich könnte es nie vergessen.»
    «Also gut», sagte Großvater, «das hier. Fangt an zu graben!»
    Die Soldaten griffen zum Werkzeug, aber sie zögerten noch. Also nahm Großvater einem von ihnen die Hacke aus der Hand, richtete sie auf den Grabhügel, der sich wölbte wie eine Frauenbrust, und schlug mit aller Kraft zu. Mit dumpfem Klang grub sich die Hacke in den Boden. Dann zog er sie zu sich heran und riss ein Stück schwarze Erde hoch, das über den Boden rollte. Jetzt war die Wölbung geglättet.
    Vaters Herz verkrampfte sich, als die Hacke den Grabhügel spaltete, und in diesem Augenblick empfand er nur Furcht und Abscheu vor Großvaters

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