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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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hinwegtäuschen: Er war gescheitert!
    Großvater glaubte das höhnische Lachen des Akademiemitglieds in seinem flüssigen Grab aus Quecksilber zu hören. Die Mitglieder der Familie Qi, die Lebenden wie die Toten, waren Meister des höhnischen Gelächters. Das freundliche Lachen anderer Menschen war ihnen fremd. Plötzlich überfiel Großvater ein überwältigendes Gefühl, das sich zu gleichen Teilen aus tiefster Demütigung, wütendem Abscheu vor allen übergroßen Gegenständen und Todesangst zusammensetzte, die dem verzehrenden Schmerz in seinem Rückgrat entsprang. Das Gefühl floss wie ein verseuchter Strom durch sein Herz.
    «Leute», sagte der stellvertretende Direktor Cao, «ihr müsst es schaffen! Nicht für mich, für die Gemeinde Nordost-Gaomi.»
    Er biss sich so kräftig auf den Mittelfinger, dass die Haut aufriss und einen Strom von dunklem Blut freigab. Mit schriller Stimme rief er: «Männer, denkt an Nordost-Gaomi!»
    Bong! Bong! Diesmal riss der Gongschlag Großvaters verwundetes Herz beinahe in Fetzen. Der Hammer schlug nicht auf die gebogene Fläche des Gongs, er schlug auf sein Herz, auf die Herzen aller Träger.
    Großvater kniff die Augen zu und begann, sich wie ein Irrer, wie ein Selbstmörder, aufzurichten. (Im allgemeinen Chaos, unter dem der Sarg gehoben wurde, sah der stellvertretende Direktor Cao, wie ein Träger, den sie den Kleinen Han nannten, schnell die Schale über dem Sarg an die Lippen hob und einen großen Schluck nahm.) Erzitternd hob sich der Sarg von den Schemeln. Nur das Knacken menschlicher Gelenke war in der Todesstille zu hören, die in der Halle herrschte.
    Großvater konnte nicht wissen, dass sein Gesicht totenbleich war, als sich der Sarg in die Luft hob. Er wusste nur, dass das dicke Seil ihn würgte, dass sein Hals kurz vor dem Bersten stand und dass die Wirbel seines Rückgrats so zusammengepresst waren, dass sie aussehen mussten wie Dornen an einem Strauch. Er konnte sich nicht aufrichten, und ein Augenblick der Verzweiflung genügte, um all seine Entschlusskraft zum Erliegen zu bringen. Seine Knie wurden weich wie geschmolzener Stahl.
    Großvaters Schwäche rief eine sofortige Verschiebung des Quecksilberspiegels hervor, und das Kopfende des gewaltigen Sargs neigte sich nach vorne und drückte auf sein gekrümmtes Rückgrat. Die Schale über dem Sarg rutschte zur Seite, und die farblose Flüssigkeit, mit der sie gefüllt war, berührte den Rand und drohte überzufließen. Die Familie Qi sah mit weit aufgerissenen Augen zu.
    Direktor Cao gab Großvater eine kräftige Ohrfeige.
    Später erinnerte sich Großvater, dass ihm von dem Schlag die Ohren dröhnten und dass alles Gefühl, dass er noch in der Taille, in den Armen, in den Schultern, im Nacken besaß, ihn verließ, als habe es ein bösartiger Geist aufgesaugt. Ein schwarzer Nebelschleier fiel über seine Augen. Davor tanzten goldene Funken.
    Er richtete sich auf und hob den Sarg mehr als einen Meter vom Boden. Sofort krochen sechs Träger auf allen vieren unter den Sarg und stützten ihn mit dem Rücken. Endlich konnte Großvater aufatmen. Der Atemzug, den er dann schöpfte, fühlte sich auf dem Weg durch Hals und Kehle warm und süß an.
    Sie trugen den Sarg durch alle sieben Torwege und stellten ihn unter dem großen hellblauen Baldachin ab.
    Sobald das dicke weiße Seil von Großvaters Rücken fiel, riss er den Mund weit auf. Aus Rachen und Nase brachen Ströme von scharlachrotem Blut.
    Großvater empfand als gelernter Sargträger nichts als Verachtung für die Soldaten der Eisengesellschaft, die sich hilflos um Großmutters Sarg drängten. Aber er hatte nicht vor, sich einzumischen. Als der Soldat mit dem dicken weißen Baumwollseil zurückkam, das er an der Bucht in Wasser getränkt hatte, trat er hinzu und wickelte es selbst um den Sarg. Dann wählte er sechzehn der besten Soldaten aus, wies ihnen ihre Positionen an und kommandierte: «Hebt an!» Der Sarg hob sich vom Boden. Großvater dachte an das, was einst geschehen war. Großmutters Sarg wurde unter einen großen Baldachin mit zweiunddreißig Tragstangen getragen. Der Sarg der Familie Qi war ein riesiger weißer Drache gewesen, der über die gepflasterte Straße aus der Stadt Jiao herauskroch. Die Passanten auf der Straße hatten so gebannt auf die tödlich bleichen Gesichter der vierundsechzig Träger und auf das Blut gestarrt, das sieben oder acht von ihnen aus der Nase schoss, dass sie den Stelzengängern, den Löwentänzern und den Feuerriesen

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