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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Grausamkeit.
    «Grabt sie aus», sagte Großvater mit schwacher Stimme und warf die Hacke weg, «grabt sie aus !»
    Die Soldaten bildeten einen Kreis um Großmutters Grab und fingen an, zu hacken und zu graben. Der Hügel war in kürzester Zeit abgetragen. Schwarze Erde flog beiseite, und allmählich wurden die Umrisse einer rechteckigen Grube sichtbar. Unter der schwammigen Erde sah das, was die Männer da sorgfältig mit ihren Schaufeln und Hacken freilegten, aus wie eine riesige Falle. «Nicht so schüchtern», sagte Großvater. «Wir sind noch lange nicht fertig.»
    Vater dachte wieder an die Nacht des neunten Tages im achten Monat des Jahres 1939 nach dem alten Kalender zurück, in der sie Großmutter begraben hatten. Das Feuer auf der Brücke und die Fackeln, die ihre Leiche umgaben, hatten das Gesicht der Toten beleuchtet und es fast wieder zum Leben erweckt, aber die schwarze Erde hatte das schöne Bild verschlungen. Jetzt wurde es wieder ausgegraben, und als Schicht um Schicht Erde abgetragen wurde, bis Vater glaubte, Großmutter lächeln und die Erde küssen zu sehen, die sie von ihnen trennte, wurde er immer nervöser.
    Schwarzauge trug ihn in den Schatten und versetzte ihm einen leichten Schlag ins Gesicht. «Douguan», sagte er, «komm zu dir!»
    Vater wachte auf, aber er wollte nicht die Augen aufmachen. Heiße Schweißperlen standen auf seinem ganzen Körper, aber sein Herz war so kühl, als habe die kalte Luft aus Großmutters Grab es für immer eingefroren. Nun lag das Grab offen, die Hirsestengel knisterten unter den Schaufeln, und den Soldaten der Eisengesellschaft zitterten die Arme. Als die letzte Erdschicht über der Hirse weggeschaufelt war, hörten sie auf zu graben und warfen Großvater und Vater flehende Blicke zu. Sie sahen, wie die Nasen der Soldaten in dem überwältigenden Gestank, der aus dem Grab drang, zuckten und zitterten. Vater sog den Geruch gierig ein. Für ihn war es der Duft der Milch, die er als Säugling aus Großmutters Brust gesogen hatte.
    «Räumt die Hirse weg», befahl Großvater den sieben Männern, die ängstlich um das Grab standen. Seine schwarzen Augen zeigten kein Mitleid. «Räumt sie weg!»
    Unwillig beugten sie sich vor und begannen, die Halme aus dem Grab zu ziehen. Klare Wassertropfen quollen aus den nackten Stängeln, die faulend die glänzende Röte von feuchtem Jade angenommen hatten.
    Immer tiefer gruben sie, und der Gestank wurde immer stärker. Sie mussten Mund und Nase mit den Ärmeln bedecken, und Tränen quollen aus den Augenwinkeln, als habe man sie mit Knoblauchpaste eingerieben. Für Vaters Nase verwandelte sich der Gestank in den vollen Duft des Hirsebrands, schwindelerregend und berauschend. Er bemerkte, dass aus jeder neuen Hirseschicht mehr Wasser quoll und dass die Halme immer röter wurden. Vielleicht, dachte er, ist es Großmutters rote Jacke, die sie färbt. Er wusste, dass jeder einzelne Tropfen Blut ihren Körper verlassen hatte, dass ihr Fleisch im Augenblick des Todes glänzend hell und fast durchsichtig gewesen war, wie das einer erwachsenen Seidenraupe. Es musste die rote Farbe ihrer Jacke sein, die die smaragdgrüne Hirse rot färbte.
    Sie hatten die letzte Schicht erreicht. Vater wollte Großmutter so schnell wie möglich zu Gesicht bekommen, aber der Gedanke jagte ihm auch Angst ein. Die Hirsedecke wurde immer dünner, doch er hatte das Gefühl, dass sich der Abstand zwischen Großmutter und ihm vergrößerte. Die Männer trugen die unsichtbare Schranke ab, die die Lebenden von den Toten trennte, und zugleich wurde sie immer unüberwindlicher. Plötzlich knisterte die letzte Hirseschicht laut protestierend auf. Einige Soldaten stießen erschreckte Rufe aus, andere verstummten vor Furcht. Es war, als habe eine gewaltige Welle der Angst, die aus dem Grabe hervorspülte, sie mit sich fortgerissen. Ihre Gesichter blieben lange Zeit aschfahl, und erst auf Großvaters Drängen fanden sie den Mut, ins Grab zu sehen.
    Vater sah vier braune Feldmäuse, die aus dem geöffneten Grab kletterten. Eine fünfte, völlig weiße, hockte auf einem unvergleichlich schönen Hirsehalm und warf mit den Klauen das Orakel. Alles starrte die braunen Feldmäuse an, die aus dem Grab kletterten und davoneilten. Die weiße blieb hochmütig-reglos sitzen und blickte sie aus kleinen pechschwarzen Augen an. Vater hob eine Erdscholle auf und schleuderte sie ins Grab. Die Maus sprang einen halben Meter in die Luft, schaffte es nicht ganz bis oben, fiel wieder

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