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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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wissen, was geschieht. Vielleicht ist ja auch jeder zehntausendste Versuch von Erfolg gekrönt. Es ist eine wunderschöne, großartige Legende, aber sie ist nicht halb so großartig wie Vaters Plan zum «Gänseangeln».
    In der Hütte schlug er meiner Mutter vor: «Qian’er, wir gehen Gänse angeln. Wir machen uns aus einer Nadel einen großen Angelhaken und stecken ein Stück gekochtes Hundefleisch als Köder daran. Dann binden wir ihn mit einer langen Schnur an eine Stange. Wenn die erste Gans den Haken verschluckt, gleitet er durch ihren Darm und kommt hinten wieder heraus. Dann verschluckt ihn die nächste Gans, und er taucht wieder auf. Dann verschluckt ihn die dritte, die vierte, die fünfte, die sechste, die achte. Wir müssen am Ende nur noch die Schnur einholen und haben die ganze Schar gefangen. Was hältst du davon?»
    «Ich glaube, das viele Hundefleisch hat dein Hirn in Brei verwandelt», beschwerte sie sich.
    Als die erschreckte Gänseschar aufflog, rannte Vater hin, um sie bei den Beinen zu packen. Es misslang. Der Flügelschlag der auffliegenden Vögel wehte ihm als kühle Brise ins Gesicht. Beim nächsten Mal nahmen sie Gewehre mit und erbeuteten im Handumdrehen drei Gänse, die sie mit nach Hause nahmen, ausnahmen, rupften und in den Topf warfen. Dann saßen sie da und schlugen sich den Magen mit Gänseragout voll. Mutter erzählte von Vaters Plänen zum Gänsefang mit der Angel, und alle lachten. In der Nacht wehte der Wind von den Feldern, und die Hirse rauschte. Hoch oben ertönte der Ruf einer einsamen Wildgans. In der Ferne bellte ein Hund. Die Gänse hatten einen Beigeschmack von frischem Gras und waren zäh. Alles in allem war es keine vortreffliche Mahlzeit.
    Der Winter verging, und es wurde Frühling. Eines Nachts kam warmer Südostwind auf, und am Morgen hörte man das Eis im Fluss bersten. Die Trauerweiden trieben Knospen so groß wie Reiskörner, und auf den Zweigen des Pfirsichbaums öffneten sich winzige rosa Blüten. Über dem Sumpfland und dem Fluss segelten die ersten Schwalben durch die Luft, Horden von Wildkaninchen jagten lüstern hintereinander her, und das Gras wurde grün. Nach ein paar nebligen Regenschauern legten Großvater und Vater die Hundepelze ab. Tag und Nacht tummelten sich unzählige lebende, wachsende Dinge geräuschvoll über der schwarzen Erde der Gemeinde Nordost-Gaomi.
    Großvater und Vater, die den Winter so wohlgenährt und kräftig überstanden hatten, fühlten sich jetzt in der Hütte eingesperrt und unternahmen lange Spaziergänge an der Böschung des Schwarzwasserflusses. Dann überquerten sie die Steinbrücke und standen vor Großmutters Grab und den Gräbern von Großvaters Männern.
    «Treten wir in das Jiao-Gao-Regiment ein», sagte Vater.
    Großvater schüttelte den Kopf.
    «Oder sollen wir zu Zugführer Leng gehen?»
    Großvater schüttelte den Kopf.
    Die Sonne schien an diesem Morgen warm und hell. Am Himmel stand nicht eine Wolke. Stumm standen sie vor Großmutters Grab.
    Östlich der Brücke sahen sie in weiter Ferne sieben Pferde, die am Nordufer langsam auf sie zukamen. Die Gesichter der Reiter unter den frisch rasierten Stirnen waren finster. Ihr Anführer war ein dunkelhäutiger Mann mit einem Ring schwarzer Warzen um das rechte Auge. Das war Schwarzauge, der Anführer der Eisengesellschaft von Nordost-Gaomi, der schon Ruhm geerntet hatte, als Großvater noch ein unbekannter Räuber war. Damals gingen die Räuberbanden und die Eisengesellschaft getrennte Wege - Flusswasser mischt sich nicht mit Brunnenwasser -, und Großvater verachtete ihn. Dann hatten im Frühjahr 1929 Großvater und Schwarzauge am Ufer des Salzwasserflusses ihre Kräfte in einem mörderischen Faustkampf gemessen, der unentschieden endete.
    Die Pferde trabten langsam auf Großmutters Grab zu, Schwarzauge zügelte sein Reittier. Das Pferd schüttelte die Mähne, senkte den Kopf und begann, frische Wildpflanzen zu fressen.
    Instinktiv legte Großvater die Hand an den Schildpattgriff seiner japanischen Pistole.
    «Ach du bist das, Kommandant Yu», sagte Schwarzauge, der aufrecht im Sattel saß.
    Großvaters Hand zitterte. «Ich bin es.»
    Aus dunklen Augen starrte Großvater sein Gegenüber herausfordernd an. Schwarzauge lachte dunkel in sich hinein und sprang vom Pferd. Er blickte über die Böschung weg auf Großmutters Grab. «Sie ist tot?»
    «Sie ist tot», sagte Großvater.
    «Verdammter Mist!» Schwarzauge spuckte die Worte wütend aus. «Eine gute Frau, und kaum

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