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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Lüsternheit. Inzwischen war Großvater zum Banditen geworden. Er jagte nicht dem Reichtum nach, sondern dem Überleben, einem Leben der Rache, der Gegenrache, der Gegengegenrache, einem unendlichen Kreislauf der Grausamkeit, der aus einem anständigen, ängstlichen Normalbürger einen schwarzherzigen, hemmungslosen Räuber von großer Fähigkeit und großem Mut machte.
    Nachdem er Blatternacken und seine Bande mit der mühsam trainierten Fähigkeit der sieben Pflaumenblüten erledigt und meinen gierigen Urgroßvater vor Furcht beinahe hatte erstarren lassen, verließ er die Brennerei, verschwand hinter dem Vorhang der Bäume und begann ein romantisches Leben von Raub und Plünderung. Die Saat des Banditentums war überall in der Gemeinde Nordost-Gaomi ausgesät. Die Regierung produzierte Banditen, Armut produzierte Banditen, Ehebruch und Sexualdelikte produzierten Banditen, das Banditentum selbst produzierte Banditen. Die Nachricht von Großvaters Heldentat, als er den scheinbar unbesiegbaren Blatternacken und seine Bande am Schwarzwasserfluß allein geschlagen hatte, verbreitete sich wie ein Steppenbrand, und kleinere Räuber schlossen sich ihm an. Das hatte zur Folge, dass die Jahre 192 5 bis 1928 zum goldenen Zeitalter des Banditentums in der Gemeinde Nordost-Gaomi wurden. Großvaters Name ließ die Herrschenden erzittern.
    In dieser Zeit war der undurchschaubare Cao Mengjiu Bezirksrichter von Gaomi, ein Mann, den Großvater immer noch verabscheute, weil er ihn mit der Schuhsohle hatte verprügeln lassen, bis die Haut sich schälte und das Fleisch aufsprang. Der Tag der Rache sollte kommen, und er sollte großen Ruhm erringen, weil er sich standhaft gegen die Regierung auflehnte.
    Zu Beginn des Jahres 1926 entführten er und zwei seiner Männer den vierzehnjährigen Sohn des Bezirksrichters Cao unmittelbar vor dem Regierungsgebäude. Er hielt den niedlichen, laut brüllenden Knaben unter einem Arm, seine Pistole in der anderen Hand und stolzierte auf der gepflasterten Straße vor dem Amtssitz auf und ab. Der kluge, fähige Gehilfe des Richters, Yan Luogo, bekannt als der kleine Yan, verfolgte ihn mit ein paar Soldaten und schrie ihn aus sicherer Entfernung an. Sie schossen wild durch die Gegend, aber ihre Kugeln kamen nicht einmal in Großvaters Nähe. Der blieb stehen, drehte sich um und setzte dem Jungen die Pistole an die Schläfe. «He du, Yan», rief er, «beweg deinen Arsch und sag dem alten Hund Cao Mengjiu, dass er seinen Jungen für zehntausend Silberdollar wiederhaben kann. Wenn ich das Geld nicht innerhalb von drei Tagen habe, ist der Kleine so gut wie tot.»
    «Meister Yu», fragte Yan freundlich, «wo findet der Austausch statt?»
    «Mitten auf der Brücke über den Schwarzwasserfluß in der Gemeinde Nordost-Gaomi», sagte Großvater.
    Der kleine Yan führte seine Leute zurück in die Kaserne.
    Als Großvater und seine Männer aus der Stadt marschierten, schrie der kleine Junge unter seinem Arm nach Papa und Mama und versuchte, sich freizustrampeln. Er hatte weiße Zähne und rote Lippen, und obgleich seine Gesichtszüge vom Weinen und Schreien verzerrt waren, war er immer noch ein hübscher Junge. «Hör auf zu heulen», sagte Großvater, «ich bin dein Pflegevater und nehme dich mit zu deiner Pflegemutter.» Da fing der Junge erst richtig an zu weinen und ging Großvater entsetzlich auf die Nerven. Er wedelte mit dem glänzenden Kurzschwert vor dem Gesicht des Jungen herum und drohte: «Ich habe gesagt, hör auf zu heulen ! Wenn du so weitermachst, schneide ich dir das Ohr ab.» Der Junge hörte auf zu schreien und ließ sich mit verblüfftem Gesicht von den beiden jüngeren Banditen mitschleppen.
    Als sie vielleicht zweieinhalb Kilometer außerhalb der Stadtwaren, hörte Großvater Hufschlag, der ihn verfolgte. Er wandte sich um und sah auf der Straße hinter sich eine Staubwolke, wie sie galoppierende Pferde aufwirbeln. Der kluge, fähige kleine Yan saß auf dem ersten Pferd, und er wusste, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Er befahl den beiden Banditen, an den Straßenrand zu treten, und dort hockten die drei sich mit ihrer Geisel nieder, der er die Pistole an die Schläfe hielt.
    Die Reiter hatten sich auf Pfeilschussweite genähert, da riss der kleine Yan die Zügel herum und ritt ins abgeerntete Hirsefeld, auf dem noch die Spreu lag. Die klaren Winterwinde hatten den Staub weggeweht, und der Boden war hart und eben. Die Reiter ritten einmal um Großvater und seine Männer herum, dann

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