Das Rote Kornfeld
gerät sie dir in die Finger, schon ist sie tot.»
Großvaters Augen sprühten Flammen.
«Wäre sie damals bei mir geblieben, wäre es anders gekommen», sagte Schwarzauge.
Großvater zog die Pistole und zielte auf Schwarzauge.
«Wenn du so etwas wie Mut hast», sagte Schwarzauge ruhig, «wirst du sie rächen. Wenn du mich umbringst, beweist du nur, was für ein Feigling du bist.»
Was ist Liebe? Jeder hat seine eigene Antwort auf die Frage. Aber dies dämonische Gefühl hat mehr tapfere Männer und schöne begabte Mädchen ruiniert, als man zählen kann. Von der romantischen Geschichte meines Großvaters, den stürmischen Affären meines Vaters und der fahlen Wüste ausgehend, die meine eigenen Liebeserfahrungen ausmachen, habe ich ein Muster der Liebe erschlossen, das nur für drei Generationen meiner eigenen Familie gilt. Das erste Element der Liebe, die Leidenschaft, besteht aus herzdurchdringendem Schmerz. Eine Flüssigkeit wie Kiefernharz quillt aus dem verwundeten Herzen, und der Blutstrom des Leidens fließt vom Magen durch Eingeweide und Därme und verlässt den Körper als teerartige Masse : Fäkalien der Leidenschaft. Das zweite Element, Grausamkeit, besteht aus gnadenloser Kritik. Jeder der beiden Partner will dem anderen bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, physisch und psychisch, geistig und körperlich. Sie haben das Bedürfnis, einander die Blutgefäße, die Muskeln und alle inneren Organe, einschließlich des dunklen roten Herzens, aus dem Leib zu reißen. Dann schleudern sie die Herzen gegeneinander, sie stoßen zusammen und fallen in Stücken zur Erde. Das dritte Element, Kälte, besteht aus lang hingezogenem, schwerem Schweigen. Eiskalte Gefühle verwandeln den Liebenden in einen Eiszapfen, der erst gefroren in der Luft hängt, dann im Schnee liegt, im Eiswasser eines Flusses treibt und schließlich neben tiefgekühltem Schweinefleisch und Gelbfisch in einer modernen Tiefkühltruhe liegt. Deshalb bedeckt weißer Reif die Gesichter der wahrhaft Liebenden, und ihre Körpertemperatur liegt bei fünfundzwanzig Grad. Ihre Zähne klappern so heftig, dass sie nicht sprechen können. Sie wollen sprechen, aber sie sind nicht mehr fähig dazu, auch wenn unbeteiligte Beobachter meinen, sie stellten sich nur dumm an.
Und deshalb ist leidenschaftliche, grausame, kalte Liebe nichts anderes als ein inneres Bluten, ein Häuten bei lebendigem Leibe, törichte, stumme Gesten. Ein Kreis, der nie ein Ende findet.
Die Bewegung der Liebe ist die Bewegung des Blutes, das sich in teerfarbenen Kot verwandelt. Der Ausdruck der Liebe sind zwei Menschen, deren Fleisch und Blut verschwimmen, wenn sie beieinanderliegen. Die Folgen der Liebe sind zwei Eiszapfen mit grauen starren Augen.
Im Sommer 1923 hatte Großvater Großmutter von ihrem Esel gehoben, sie ins Hirsefeld getragen und auf seinen Regenmantel aus Stroh gelegt. So begann die tragische Phase des inneren Blutens. Im Sommer 1926, als Vater drei Jahre alt war, wurde Großmutters Dienerin Lian’er zur Dritten in einem Liebesdreieck und streckte ihre lieblichen Schenkel zwischen Großvater und Großmutter. Damals begann das Häuten bei lebendigem Leibe. Ihre Liebe wanderte vom Himmel der Leidenschaft in die Hölle der Grausamkeit.
Lian’er war ein Jahr jünger als Großmutter, die im Frühjahr 1926 neunzehn geworden war. Die Achtzehnjährige besaß einen kräftigen, gesunden Körper, lange Beine und große ungebundene Füße. In ihrem dunklen Gesicht waren hübsche, runde, feuchte Augen, eine freche, kleine Nase und breite, lüsterne Lippen. Das Brennereigeschäft blühte zu jener Zeit, und unser erstklassiger Hirsebrand hatte achtzehn Bezirke in neun Präfekturen im Sturm erobert. Die Luft war schwer vom Branntweinduft.
In der berauschenden Atmosphäre der langen Tage und der kurzen Nächte entwickelten die Männer und Frauen meiner Familie eine außerordentliche Trinkfähigkeit. Bei Großvater und Großmutter war das selbstverständlich, aber auch die ältere Frau Liu, die vorher nie getrunken hatte, konnte später einen halben Liter auf einmal vertragen.
Lian’er, die ursprünglich nur getrunken hatte, um Großmutter Gesellschaft zu leisten, konnte später ohne ihren Hirsebrand nicht mehr leben. Der Alkohol belebte sie alle und gab ihnen den Mut, der Gefahr furchtlos ins Auge zu sehen und den Tod als Heimkehr zu betrachten. Seinetwegen gaben sie sich dem Genuss hin und führten ein träumerisches Leben moralischer Verkommenheit und unbeständiger
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