Das Rote Kornfeld
geschlossenen Augen und schwacher Stimme: «Warum geht es nicht weiter? Warten wir darauf, dass sie uns umbringen?» Seine Eltern erstarrten einen Augenblick, schienen über den möglichen prophetischen Gehalt seiner Worte nachzudenken und erwachten dann wieder in die Wirklichkeit, die sie umgab. Die Mutter starrte Großvater in seinen bunten Kleidern düster an, der Vater versetzte dem Maultier einen Schlag auf den Rücken, und die Flüchtlinge zogen unruhig wie heimatlose Katzen und munter wie Fische, die dem Netz entronnen sind, weiter die Straße entlang. Großvater sah den Rücken nach, die sich entfernten, und behielt den Knaben mit den großen hängenden Ohren im Blick. Seine Ahnung sollte sich bewahrheiten, denn zwanzig Jahre später erwies sich der kleine Schweinehund in dem Sündenpfuhl, das die Gemeinde Nordost-Gaomi für ihn war, als ein von dämonischem Fanatismus besessener Eiferer.
Großvater eilte zum Westflügel und öffnete das Versteck in der doppelten Wand, um seine Pistole herauszuholen. Sie war verschwunden, aber wo sie gelegen hatte, konnte man ihre Umrisse noch erkennen. Irgend etwas stimmte nicht. Er drehte sich um und erblickte Großmutter, die ihn mit verächtlichem Lächeln ansah. Die dünnen Augenbrauen zogen sich über einem dunklen, trübsinnigen Gesicht nach unten; die Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, das von einer Backe zur anderen reichte. Großvater starrte sie drohend an und schrie: «Wo ist meine Pistole?»
Großmutters Oberlippe zuckte verächtlich. Sie schnaubte kalt durch die hochgezogene Nase. Mit einem letzten abfälligen Blick griff sie zum Staubwedel und fing an, das Bettgestell abzustauben.
«Wo ist meine Pistole?» brüllte Großvater mit Donnerstimme.
«Wie zum Teufel soll ich das wissen?» gab sie zurück und prügelte gnadenlos auf das unschuldige Bettzeug ein.
«Gib mir meine Pistole», sagte Großvater und versuchte, seiner Nervosität Herr zu werden. «Die Japaner haben das Dorf an der Salzwassermündung umzingelt», sagte er, so ruhig er konnte. «Ich muss nachsehen, was los ist.»
Großmutter drehte sich ärgerlich zu ihm um und sagte: «Dann geh doch! Was geht das mich an?»
«Dann gib mir meine Pistole!»
«Ich weiß von nichts. Frag mich nicht danach.»
Großvater trat ganz nah an sie heran und sagte: «Du hast meine Pistole gestohlen und sie Schwarzauge gegeben, oder etwa nicht?»
«Jawohl! Ich habe sie ihm gegeben! Und außerdem hab ich mit ihm geschlafen. Und es war toll ! Ich habe mich großartig amüsiert!»
Großvaters Mund verzog sich zu einem bösartigen Grinsen. «Ach so!» sagte er nur. Dann ballte er die Faust und schlug sie ihr genau auf die Nase. Dunkles Blut spritzte aus Großmutters Nase. Sie schrie erschreckt auf und fiel wie eine umstürzende Säule zu Boden. Als sie sich mühsam aufraffte, schlug er ihr die Faust in den Nacken. Er legte all seine Kraft in den zweiten Hieb, und sie flog vier oder fünf Meter durchs Zimmer, bis sie gegen eine Truhe an der Wand donnerte.
«Nutte! Dreckige Sau!» zischte Großvater zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Er kochte vor Wut. Das schwarze Blut, das sich jahrelang aufgestaut hatte, kreiste wie Gift in seinen Adern. Er dachte an die unaussprechliche Schande zurück, als Schwarzauge ihn zusammengeschlagen hatte, und daran, wie oft er sich Großmutter vorgestellt hatte, die stöhnend, nach Luft schnappend, sich schamlos räkelnd unter dem Wolfsmann lag. Seine Eingeweide wanden sich wie Schlangen, Mittsommerhitze durchzuckte seinen Körper, er griff nach dem Türriegel aus Dattelholz und wollte ihn Großmutter auf den blutbefleckten Kopf schlagen. Mit gespanntem Hals versuchte sie so hartnäckig und energisch wie eh und je wieder auf die Füße zu kommen.
«Nein, Pflegevater!» schrie Vater, der ins Zimmer stürzte und nach dem Türriegel griff, den Großvater gerade durch die Luft schwang.
Vaters Schrei hat Großmutter das Leben gerettet. Er war auch der Grund, dass sie nicht durch Großvaters Hände, sondern durch eine japanische Kugel starb und dass ihr Tod so ruhmreich und leuchtend wurde wie reife rote Hirse.
Großmutter kroch auf Großvater zu und schlang die Arme um seine Knie. Krämpfe durchschossen die brennendheißen Arme, die sie gegen seine stahlharten Beine rieb. Sie hob ihm das düstere, von Blut und Tränen überströmte Gesicht entgegen und sagte: «Zhan’ao, Zhan’ao! Geliebter, mein Geliebter, bring mich um, na los, töte mich schon. Du ahnst nicht, wie es mir
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