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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Schnapsgeruch schwächer geworden, und im Geruch der frischen Tünche duftete das Anwesen sauber und frisch. In sorglos fröhlicher Stimmung kaufte Großmutter im Dorfladen eine Schere, rotes Papier, Nadel und Faden und andere Haushaltsartikel. Wieder zu Hause, stieg sie auf das gemauerte Bett neben dem Fenster mit seiner ganz neuen Decke aus weißem Papier und machte sich daran, Scherenschnitte als Fensterschmuck anzufertigen. Schon als Kind war sie phantasievoll und geschickt gewesen und hatte immer schönere Scherenschnitte und Stickereien angefertigt als die Mädchen in der Nachbarschaft. Sie war eine echte Volkskünstlerin, die einen bedeutsamen Beitrag zur Kunst des Scherenschnitts in der Gemeinde Nordost-Gaomi geleistet hat. Die Scherenschnitte von Gaomi sind zart und elegant, einfach und lebendig, und man hat ihren Stil mit einem Himmelspferd verglichen, das am Firmament dahinrast.
    Als Großmutter zur Schere griff und ein gleichmäßiges Quadrat aus dem roten Papier schnitt, überfiel sie blitzartig ein Gefühl der Ungewissheit. Auch wenn ihr physischer Körper auf dem Bett saß, war doch ihr Herz aus dem Fenster geflogen und schwebte wie eine Taube über einem Meer von roter Hirse. Von Kindheit an hatte Großmutter ein zurückgezogenes Leben geführt, sie hatte nie das Haus verlassen und war von der Außenwelt abgeschlossen aufgewachsen. Als sie heranwuchs, hatte sie die Anordnungen ihrer Eltern befolgt, die eine Ehe für sie arrangiert hatten, und war eilig ins Haus ihres Mannes geschickt worden. In den zwei Wochen danach hatte sich ihre Welt von Grund auf verändert: Wasserpflanzen im Wind, Entengrütze im Regen, Lotosblätter auf dem Teich, rote Mandarinenten beim Liebesspiel In diesen zwei Wochen hatte das Schicksal ihr Herz in Honig getaucht, ins Eis geworfen, mit kochendem Wasser übergossen, in Hirsebrand eingelegt. Sie hatte zehntausend Düfte genossen und hunderttausend Schmerzen erfahren.
    Großmutter hoffte auf etwas; aber sie wusste nicht, auf was. Sie griff wieder zur Schere, aber sie wusste nicht, was sie ausschneiden wollte. Ein wirres Bild nach dem anderen drängte sich in ihre Phantasien und Träume. Das eintönige und liebliche Zirpen der Grillen stieg aus dem Wildgebüsch im Frühherbst und aus den Hirsefeldern auf, die von schwerem Branntweinduft verhangen waren. Fast konnte sie die zierlichen grünen Insekten sehen, die sich unter den hellroten Rispen der Hirsehalme verbargen und mit dünnen Hinterbeinen über die Flügeldecken rieben. Ein kühner, ein neuer Gedanke sprang ihr ins Herz :
    Eine Grille hatte sich aus dem goldenen Käfig befreit, in dem sie gesessen und gesungen hatte.
    Nachdem sie die befreite Grille ausgeschnitten hatte, machte sich Großmutter an einen Pflaumenblüten-Hirsch. Der Hirsch trägt den Kopf stolz hochgeworfen und bläht die Brust. Aus seinem Rücken sprießt ein blühender roter Pflaumenbaum. Stolz wandert er durch die Welt auf der Suche nach einem glücklichen Leben ohne Sorgen, ohne Kummer, ohne Zwang.
    An ihren Träumen beim Scherenschnitt kann man sehen, was für eine außergewöhnliche Frau meine Großmutter war. Niemand anders hätte die Kühnheit besessen, eine Pflaumenblüte auf den Rücken eines Hirschs zu setzen. Immer wenn ich die Scherenschnitte meiner Großmutter betrachte, steigt neue Bewunderung für sie in mir auf. Wäre sie Schriftstellerin geworden, viele Autoren wären vor Neid erblasst. Sie war ein schöpferischer Mensch mit den Goldlippen und den Jadezähnen des Genies. Sie sagte, die Grille sei ihrem Käfig entflohen, und so war es. Sie sagte, ein Pflaumenbaum wachse auf dem Rücken des Hirschs, und so war es.
    Ach, Großmutter, im Vergleich zu dir bin ich eine zusammengeschnürrte Laus, die seit drei Jahren Hunger leidet.
    Während sie noch mit ihren Scherenschnitten beschäftigt war, hörte sie, wie sich das Haupttor quietschend öffnete.
    Eine fremde und zugleich seltsam vertraute Stimme rief im Hof:
    «Chefin, stellt Ihr Arbeiter ein?»
    Großmutter fiel die Schere aus der Hand und auf das Bett.
     
     
7
     
    Das erste, was Vater sah, als Großvater ihn wach gerüttelt hatte, war ein langer gewundener Feuerdrache, der auf sie zukam. Unter hochgehaltenen Fackeln erhob sich kühnes Geheul. Vater konnte nicht verstehen, wie eine sich windende Reihe von Fackeln einen Mann wie Großvater so tief rühren konnte, einen Mann, der töten konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er weinte unverhohlen. «Douguan», murmelte er, von Seufzern

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