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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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ausgebreitet. Die immer kühleren Strahlen des hellen Mondes fielen auf die eingeschrumpften glanzlosen Spitzen der Hirse.
    Die Flinte hinter sich herschleifend, folgte Vater Großvater auf seinem Rundgang über das Schlachtfeld. Die dunkle, blutgetränkte Erde hatte die Konsistenz von Ton und lag weich unter ihren Schritten. Leichen lagen zwischen den niedergewalzten Hirsepflanzen. Das Mondlicht tanzte über einem Tümpel von Blut, und verschwommene, abstoßende Gesichter, darum ringend, wiedererkannt zu werden, raubten Vater die letzten Monate und Jahre seiner Jugend. Aus dem Hirsefeld schienen gequälte Schreie aufzusteigen, und hie und da regte sich etwas unter den Leichen. Vater wollte Großvater bitten, den Dorfbewohnern zu helfen, die noch am Leben waren, aber als er aufblickte und das fahle, kränkliche, ausdruckslose Gesicht seines Vaters sah, blieben ihm die Worte in der Kehle stecken.
    In kritischen Augenblicken war Vater immer etwas flinker als Großvater, wohl weil er sich auf oberflächliche Phänomene konzentrierte. Oberflächliches Denken scheint eine ideale Voraussetzung für den Partisanenkampf zu sein. In diesem Augenblick jedenfalls wirkte Großvater benommen und konzentrierte sich jeweils nur auf einen Punkt: ein verzerrtes Gesicht, ein zerbrochenes Gewehr oder eine einzelne leere Patronenhülse. Für alles andere war er blind und taub. Das war eine seiner mehr oder weniger problematischen Eigenschaften, die sich im Verlauf des kommenden Jahrzehnts noch ausprägen sollten. Als er aus den Bergen Hokkaidos nach China zurückkam, lag eine unergründliche Tiefe in seinen Augen. Er starrte Dinge an, als wolle er sie durch reine Willenskraft zur Selbstentzündung bringen.
    Vater ist nie in diese Tiefen philosophischen Denkens vorgedrungen. Als er 1957, nach unzähligen Mühen, endlich wieder aus dem Erdloch auftauchte, das Mutter für ihn gegraben hatte, war sein Blick in nichts anders als in seiner Jugend: lebendig, verwundert, wandelbar. Sein Leben lang durchschaute er die Zusammenhänge zwischen Menschen und Politik, zwischen Gesellschaft und Krieg nicht, obwohl er selbst der Gewalt des Kriegs reichlich ausgesetzt gewesen war. Ständig versuchte er, das Licht, das seine Natur war, aus dem kalten Metallpanzer zu befreien, der ihn umgab. Aber das Licht selbst war eisig, verkrüppelt und umschloss abgrundtiefe Barbarei.
    Großvater und Vater umkreisten das Schlachtfeld mehr als zehnmal, bis Vater unter Tränen sagte: «Vater. .. ich kann nicht mehr gehen ...»
    Großvaters robotergleicher Schritt kam zum Stillstand. Er nahm Vater an der Hand, trat etwa zehn Schritte zurück und ließ sich mit ihm auf einem trockenen Fleck Erde nieder, der nicht von Blut durchtränkt war. Die knisternden Feuer im Dorf unterstrichen die Einsamkeit und Trostlosigkeit des Hirsefeldes. Schwache goldene Flammen tanzten launisch im silbernen Mondlicht. Einen Augenblick blieb Großvater sitzen, dann ließ er sich nach hinten fallen wie eine einstürzende Mauer. Vater legte den Kopf auf Großvaters Bauch und fiel in unruhigen Schlaf. Er fühlte, wie Großvaters große, glühendheiße Hand seinen Kopf zart streichelte, und dachte an die Zeit vor Jahren zurück, als er noch an Großmutters Brust saugte.
    Damals war er vier und hatte genug von der gelblichen Brust, die sie ihm ständig in den Mund schob. Er hatte begonnen, diese harte, saure Brustwarze zu hassen. Mit einem mörderischen Funkeln im Auge blickte er zu Großmutters hingebungsvoll entrücktem Gesicht auf und biss so hart zu, wie er nur konnte. Er fühlte, wie Großmutters Brust sich zusammenzog und ihr Körper von ihm wegzuckte. Spuren süßer Flüssigkeit wärmten seine Mundwinkel. Großmutter versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Hintern und stieß ihn weg. Er fiel auf die Erde und setzte sich dann, auf die frischen roten Blutstropfen starrend, die über Großmutters hängende Melonenbrust liefen, wieder hin. Mit trockenen Augen schrie er ein paar Mal auf; aber Großmutter weinte bitterlich. Ihre Schultern zuckten, und Tränen strömten über ihre Wangen. Sie beschimpfte ihn wütend und nannte ihn einen kleinen Wolf, so bösartig wie der Wolf, der sein Vater war.
    Später erfuhr er, dass sich in diesem Jahr Großvater, der Großmutter von Herzen liebte, in ihr Dienstmädchen Lian’er verliebt hatte, die zu einer jungen Frau mit hellen Augen herangewachsen war. Als Vater Großmutter biss, lebte Großvater, der ihre Eifersucht nicht mehr ertragen konnte, mit

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