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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Lian’er in einem Haus, das er im Nachbardorf gekauft hatte. Alle sagten, diese meine zweite Großmutter sei nicht gerade schüchtern gewesen und Großmutter habe Angst vor ihr gehabt. Aber davon werde ich später sprechen. Meine Zweite Großmutter gebar Großvater ein Mädchen, meine Tante. Im August 1938 töteten japanische Soldaten sie mit einem Bajonett und vergewaltigten meine Großmutter. Auch davon werde ich später sprechen.
    Großvater und Vater waren erschöpft. Großvater fühlte, wie sein verwundeter Arm pochte, als habe er Feuer gefangen. Ihre Füße waren so geschwollen, dass ihre Stoffschuhe aus den Nähten platzen wollten, und sie träumten von dem einmaligen Genuss, die faulende Haut ihrer Füße im Mondlicht zu lüften. Aber sie waren zu schwach, um sich aufzusetzen und die Schuhe auszuziehen.
    In betäubtem Halbschlaf lagen sie da. Vater wälzte sich auf die Seite und legte seinen Kopf auf Großvaters harten Magen, so dass er zum sternklaren Nachthimmel aufblicken und sein Gesicht im Mondschein baden konnte. Er hörte das Murmeln des Schwarzwasserflusses und sah, wie sich am Himmel über ihm schwarze Wolken zusammenzogen wie zitternde Schlangen, die doch an ihrem Platz festgefroren waren. Vater erinnerte sich, dass Onkel Luohan einmal gesagt hatte, wenn die Milchstraße waagerecht am Himmel liege, fielen die Herbstregen. In Wirklichkeit hatte er nur einmal die Herbstflut erlebt.
    Es war zur Erntezeit, als der Schwarzwasserfluß über die Ufer trat und die Felder und das Dorf überschwemmte. Hirsepflanzen bemühten sich, die Köpfe über dem Wasser zu halten, Ratten und Schlangen kletterten und wanden sich an ihnen empor, um nicht zu ertrinken. Vater war mit Onkel Luohan zur Dorfmauer gegangen, die die Dorfbewohner verstärken wollten, und sah ängstlich auf das gelbe Wasser, das auf ihn zuschoss. Da das Wasser sich nur langsam zurückzog, bauten die Dorfbewohner Reisigflöße und paddelten mit ihren Sicheln auf die Felder, um die Getreiderispen abzuhacken, an denen sich schon neue grüne Knospen bildeten. Bündel um Bündel durchnässter tiefroter und smaragdgrüner Garben lagen so schwer auf den Flößen, dass sie zu sinken drohten. Die dunklen hageren Männer, ihre kegelförmigen Strohhüte aufgesetzt, standen barfuss und mit nacktem Oberkörper auf den Flößen, die sie mit aller Gewalt, sich kräftig von Seite zu Seite wiegend, zur Dorfmauer stakten.
    Im Dorf stand das Wasser kniehoch und umspülte die Beine der Maultiere, Pferde, Ziegen und Schafe, deren Dung an der Oberfläche trieb. Unter den verlöschenden Strahlen der sinkenden Herbstsonne leuchtete das Wasser wie flüssiges Metall. Die Spitzen der weit entfernten Hirsepflanzen, die man nicht ernten konnte, bildeten direkt über dem Wasserspiegel eine goldrote Decke. Darüber flogen Schwärme von Wildgänsen, deren Flügelschlag als kühle Brise über das Land strich und kleine Wellen im Wasser aufwirbelte. Vater konnte eine breite, helle Strömung sehen, die langsam an der Stelle dahinfloss, wo die rote Hirse am dichtesten stand und sich deutlich von dem schlammigen, stehenden Wasser in ihrer Nähe abhob. Das war der Schwarzwasserfluß. Die erschöpften Männer näherten sich der Mauer, auf der Großvater stand, und riefen einander die neuesten Nachrichten zu. Auf einem der Flöße lag ein Graskarpfen mit silbernem Bauch und grünem Rücken. Durch seine Kiemen war ein langer Hirsehalm gespießt. Der Bauer, der ihn gefangen hatte, zeigte ihn voll Stolz den Leuten auf der Mauer. Der Fisch war etwa halb so groß wie er selbst. Aus den Kiemen quoll Blut, und der Mund stand offen. Der Fisch blickte meinen Vater aus stumpfen, betrübten Augen an.
    Vater dachte daran, wie Onkel Luohan einmal einem Bauern einen Fisch abgekauft hatte und wie Großmutter ihn geschuppt und Suppe daraus gekocht hatte. Schon wenn er an die köstliche Suppe dachte, wurde er hungrig. Er richtete sich auf. «Vater», sagte er, «hast du keinen Hunger? Ich schon. Kannst du etwas zu essen finden? Ich bin am Verhungern ...»
    Großvater suchte in seinem Gürtel nach einer Patrone, ließ sie in die Trommel fallen, ließ die Trommel zuschnappen und die Patrone in die Kammer gleiten. Er spannte den Abzug, der laut knackte. «Douguan», sagte er, «komm ... wir gehen deine Mutter suchen ...»
    Mit hoher ängstlicher Stimme antwortete Vater: «Nein, Vater, Mutter ist tot. Aber wir sind noch am Leben, und ich habe Hunger. Besorg mir etwas zu essen.» Vater zog Großvater hoch.

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