Das rote Zimmer
durchgegangen. Langsam fangen Sie an, mir meine Zeit zu stehlen.«
»Dann werden Sie die Möglichkeit, dass eine Frau mit im Spiel war, also nicht in Betracht ziehen?«
»Denken Sie da an eine bestimmte Frau?«
»Ja.«
»Wen?«
»Bryony Teale.«
»Wie bitte?«
»Hören Sie mir fünf Minuten zu, dann können Sie mich rauswerfen.«
»Und er hat dir zugehört?«, fragte Julie und nippte an ihrem Drink.
Wir saßen in Soho in einer neuen Kneipe namens Bar Nothing. Anscheinend waren harte Kanten und gerade Linien zurzeit out. Die Einrichtung bestand aus pastellfarbenen Sofas und großen Kissen auf dem Boden.
Wir saßen an der Bar, die nicht aus weichem Material bestand. Eine Bar durfte nicht weich sein, weil sonst die Drinks runterfielen. Immerhin war sie sanft geschwungen.
Ich hatte Julie am frühen Abend in der Wohnung angetroffen, hatte geschrien und getobt, hatte – im übertragenen Sinn – meinen Kopf gegen die Wand geknallt. Julie hatte mich eine Weile gewähren lassen und dann darauf beharrt, dass unser Abend nur noch dadurch zu retten sei, dass wir uns anzogen und zusammen die Stadt unsicher machten. Sie hatte inzwischen ein bisschen zugenommen und sah in einem weiteren meiner Kleider, einem schwarzen mit Chiffonärmeln, absolut umwerfend aus. Ich trug mein knallenges rosa Kleid für spezielle Gelegenheiten, das ich mir mal gekauft hatte, weil ich mich darin wie die Hauptperson aus einem jener Bluessongs fühlte, in denen sich der Sänger darüber beklagt, von einer teuflischen Frau von zu Hause weggelockt worden zu sein. Ich hoffte irgendwie, jemand würde auf uns zukommen und uns erklären, dass wir mit unserem Outfit gegen die städtischen Verordnungen verstießen.
Ich glaube, ich brachte Julie sofort in Verlegenheit, indem ich zwei Margaritas bestellte, was wahrscheinlich typisch für die Neunziger-, wenn nicht sogar für die Achtzigerjahre war, aber ich brauchte dringend etwas schnell Wirkendes.
»Weißt du, Rosa ist wirklich deine Farbe«, erklärte Julie, nachdem wir den ersten Schluck getrunken hatten. »Das passt irgendwie gut zu deinen grauen Augen.«
»Und zu meiner Narbe.«
»Sag doch so was nicht!«
»Ich denke, es wird langsam besser«, meinte ich. »Vor nicht allzu langer Zeit habe ich noch vom Phantom der Oper gesprochen, erinnerst du dich? Inzwischen fürchte ich mich nicht mehr davor, dass die Leute mich so sehen könnten. Eher glaube ich, dass sie mich für das Opfer einer missglückten Schönheitsoperation halten.«
Julie gab mir keine Antwort. Stattdessen berührte sie mein Gesicht, drehte es so hin, dass die betroffene Seite ganz im Licht war. Sie musterte sie, als würde sie einen dekorativen Gegenstand in meiner Wohnung in Augenschein nehmen. Ich musste daran denken, wie die kleine Emily die Narbe mit dem Finger nachgezeichnet hatte. Nachdem Julie mit ihrer Analyse fertig war, lächelte sie.
»Sie sieht aus, als könnte sie eine Geschichte erzählen.«
»Die einzige Geschichte, die diese Narbe erzählt, ist, wie wenig Zeit er hatte.«
Julie verzog das Gesicht, und ich entschuldigte mich.
Nachdem wir uns beide noch einen zweiten Drink bestellt hatten, lenkte ich das Gespräch auf sie. Sie sprach über Reisen, über schreckliche und ein paar nette Männer, über ihre Pläne. Plötzlich fragte sie mich, ob ich mitkommen wolle, und ich überraschte mich selbst mit dem Gedanken: Tja, warum eigentlich nicht? Warum nicht alles stehen und liegen lassen und weggehen? Als mein zweiter Drink zur Neige ging, dachte ich bereits: Warum nicht alles stehen und liegen lassen und noch heute Abend aufbrechen?
Wir fanden einen Tisch und bestellten eine Flasche Wein und jede einen Salat, aber dann erschien mir das nicht mehr genug. Ich hatte plötzlich Heißhunger auf rotes Fleisch. Julie schien ein wenig blass zu werden, als es serviert wurde: dünne Scheiben rohes Rindfleisch mit feinen Parmesanraspeln, beträufelt mit Olivenöl und Zitronensaft. »Eigentlich bin ich eine richtige Fleischfresserin«, erklärte sie. »Aber ich glaube, ich mag es einfach lieber, wenn das Fleisch einen schönen Braunton hat.«
Ich versuchte, beim Thema zu bleiben und weiter über Julie und ihr Leben zu sprechen. Aber es half nichts. Ich war wie ein rauchender Vulkan, und noch während wir in unseren Salaten herumstocherten, brach der Vulkan aus, und ich begann mit einem feurigen Bericht über die letzten zwei Tage.
»Ja, Oban hat mir zugehört«, erklärte ich, nachdem ich unsere Gläser ein zweites Mal
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