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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Ihnen ja schon gesagt, dass ich Lianne nicht wirklich gut kannte.«
    »Ja, das haben Sie.«
    »Und das stimmt auch. Durch meine Türen kommen jede Woche Dutzende von Jugendlichen. Falls nötig, gewähren wir ihnen Unterschlupf und informieren sie über ihre Möglichkeiten. Wir bringen sie auch mit verschiedenen Organisationen zusammen, wenn sie das möchten, aber wir stellen ihnen keine unerwünschten Fragen. Das ist mir ein sehr großes Anliegen – eigentlich war das überhaupt der Grund, warum ich das Tyndale Centre gegründet habe. Wir versuchen ihnen nicht zu sagen, was für sie am besten ist. Wir fällen kein Urteil über sie – alle anderen tun das, wir nicht. Wir setzen bestimmte Grundregeln fest, aber darüber hinaus stellen wir keine Forderungen an sie. So habe ich das Zentrum konzipiert – als einen Ort, an dem diese jungen Leute Zeit und Freiraum haben, über sich selbst nachzudenken, auch wenn sie dabei unter Umständen schmerzhafte Fehlentscheidungen für ihr Leben treffen –« Er hielt abrupt inne. »Aber das tut alles nichts zur Sache.«
    »Nein, sagen Sie das nicht, ehrlich –«
    »Lianne ist im letzten halben Jahr dreimal im Centre gewesen«, unterbrach er mich. »Die ersten beiden Male war sie recht optimistisch, was ihre Zukunft betraf. Sie sagte, sie wolle Köchin werden – erfahrungsgemäß will etwa ein Fünftel aller Kinder, die in Pflegeheimen aufwachsen, Koch oder Köchin werden. Wir haben ihr Infoblätter über entsprechende Kurse in die Hand gedrückt, ein paar Tipps gegeben, solche Dinge. Als sie aber das dritte und letzte Mal kam, machte sie auf mich einen sehr deprimierten Eindruck. Als hätte sie einen richtigen Dämpfer bekommen. Sie wirkte in sich gekehrt und teilnahmslos.«
    »Haben Sie eine Ahnung, was der Grund gewesen sein könnte?«
    Er trank seinen Kaffee aus und starrte auf den Boden seiner Tasse. »Ein paar Wochen zuvor hatte ihre beste Freundin Selbstmord begangen.«
    »Wie alt war sie?«
    »Vierzehn oder fünfzehn. Vielleicht auch sechzehn.
    Genau weiß ich es nicht.«
    »Woher kannten sich die beiden?«
    »Keine Ahnung. Einmal sind sie gemeinsam ins Centre gekommen, kannten sich aber allem Anschein nach schon länger. Wahrscheinlich hingen sie einfach an denselben Orten herum.«
    »Warum hat sie es getan?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Suchen Sie sich einen Grund aus. Man sollte besser fragen, warum es nicht mehr von ihnen tun. Daisy.«
    »So hat sie geheißen?«
    »Daisy Gill. Klingt irgendwie fröhlich, finden Sie nicht?«
    Und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, entwischte ihm ein richtiges Lächeln – wehmütig und sehr kurz, aber ehrlich. Als ich es erwiderte, wandte er den Blick ab und starrte durch das Fenster auf meine grasbewachsene Pestgrube.
    »Darf ich Ihnen vielleicht doch ein Glas Wein anbieten?«
    »Jetzt verfügen Sie über eine weitere Information«, antwortete er, ohne auf meine Frage einzugehen. »Sie können sie dem hinzufügen, was Sie bereits wissen.
    Erstens: Lianne hatte Sorgen. Zweitens: Lianne wurde ermordet.«
    »Vielleicht. Wein?«
    »Nein, danke, keinen Wein. Genug gesagt. Auf Wiedersehen.«
    Rasch stand er auf und streckte mir die Hand hin. Ich ergriff sie. »Danke«, sagte ich, und in dem Moment rauschte Julie herein. Ihr Gesicht wirkte strahlend und aufgeregt, sie hatte bereits den Mund geöffnet, um mir etwas zu erzählen. Verwirrt starrte sie uns an.
    »Was für eine Überraschung!«, brachte sie schließlich heraus. Will nickte ihr zu. »Ich bin gerade am Gehen.«
    »Ein Glas Wein?«, stammelte sie. »Oder Bier?«
    »Nein«, antwortete er. »Vielen Dank.«
    An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Es tut mir Leid, dass ich mich bei Ihrem Abendessen so unmöglich benommen habe. Das Essen war wirklich köstlich.«
    Und weg war er.

    »Also weißt du«, wandte sich Julie an mich. »Du bist ja ganz schön hinterhältig.«
    »Er war ungefähr zwei Minuten da. Er wollte mir etwas über die junge Frau erzählen, die ermordet worden ist.«
    »Ja, ja. Ich bin sowieso nicht mehr an ihm interessiert.
    Der ist mir zu miesepetrig. Möchtest du hören, was es in meinem Leben für Neuigkeiten gibt?«
    »Schieß los.«
    »Ich hab einen Job.«
    »Nein!«
    »Doch. In einem Monat fange ich an – ich habe ihnen gesagt, bis dahin hätte ich andere Verpflichtungen.«
    »Welche?«
    »Keine, das weißt du doch, aber man sollte nie den Eindruck erwecken, als hätte man nichts Besseres zu tun, oder?«
    »Herzlichen Glückwunsch, Julie! Ich bin sicher,

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