Das rote Zimmer
großen Plastiksäcke einzusammeln, die am Straßenrand standen. Ich lehnte mich zurück und ließ London an mir vorüberziehen. Ich dachte an Will, sein sorgenvolles Gesicht im Kerzenlicht, und an Bryony Teale mit dem apricotfarbenen Haar, dem müden Lächeln und den zitternden Händen. Ich stellte mir Bryony neben Lianne und Philippa vor. Ich berührte meine Narbe.
Willkommen im Klub, dachte ich. Dann versuchte ich, an gar nichts mehr zu denken.
27. KAPITEL
Julie war noch im Bett. Ich hörte, wie sie sich in dem Zimmer, das vor langer Zeit mal mein Arbeitszimmer gewesen war, auf dem Sofa umdrehte. Ich setzte den Wasserkessel auf und gab Kaffeebohnen in die Mühle.
Bevor ich sie anschaltete, deckte ich sie mit einem Geschirrtuch ab, hörte Julie aber trotzdem durch die Wände hindurch stöhnen. Als ich fertig war, hielt ich die Nase über den frisch gemahlenen Kaffee und atmete tief ein. Im Kühlschrank fand ich eine Nektarine, die ich auf einem Teller viertelte, und einen kleinen Becher griechischen Jogurt. Während ich langsam den starken, aromatischen Kaffee trank, aß ich abwechselnd kleine Stücke von der süßen, saftigen Nektarine und Löffel voll cremigem Jogurt. Es war sieben Uhr.
Ich musste einen Termin mit Doll vereinbaren, eventuell auch mit dem anderen Zeugen. Außerdem musste ich noch mal zu Bryony Teale. Und ich wollte Will sehen. Ich legte die Hand an meinen Hals, meine Wange. Meine Haut fühlte sich zart und weich an. Ich schloss die Augen und stellte mir sein Gesicht vor. Vielleicht wollte er mich ja gar nicht mehr sehen – vielleicht war es das wirklich schon gewesen, ein paar Stunden in einer schlaflosen Nacht.
Julie wankte herein. Sie trug ein Männerhemd, das verdächtig nach einem von Albie aussah. Wo hatte sie das bloß aufgestöbert? »Hallo«, sagte sie und tapste zum Kühlschrank, wo sie sich eine Tasse Milch einschenkte und in einem Zug austrank. Dann drehte sie sich zu mir um, einen weißen Schnurrbart an der Oberlippe. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ich denke schon.«
»Notfalleinsatz beendet?«
»Zumindest vorerst.«
»Gut. Möchtest du eine Scheibe Toast?«
»Nein, danke.«
Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter, als bestünde die Chance, dass er dort gerade vorbeiging.
»Ich wünschte …«
»Ja? Was?«, fragte Julie.
Ich hatte schließlich seine Privatnummer. Warum nicht?
Ich rief ihn an. Es läutete ein paar Mal, bevor er ranging.
Der Laut, mit dem er sich meldete, klang ein bisschen wie:
»Anngh.«
»Ich bin’s«, sagte ich. »Kit.«
Es folgte ein weiterer unverständlicher Laut, dann eine Pause. Vielleicht musste er sich erst mal sammeln. »Bist du gerade aufgewacht?«, fragte er.
»Nein, ich bin gerade heimgekommen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich bin in der Nacht noch mal rausgerufen worden. Ein Notfall.«
»Oh.« Er schwieg einen Moment. »Sollen wir zusammen frühstücken?«
»Jetzt?«
»Wie spät ist es denn?« Ich hörte ihn nach etwas suchen und dann stöhnen. »Gegen acht?«
»Bei dir?«, fragte ich.
»Ich frühstücke eigentlich nie zu Hause.«
Ich war enttäuscht. Ich wollte seine Wohnung sehen.
Manche Leute behaupten, auf seinem eigenen Territorium sei man am stärksten, aber das stimmt nicht. Auf seinem eigenen Territorium ist man am verletzlichsten. Anderswo kann man den Touristen spielen, aber der Ort, wo man schläft, verrät eine Menge über eine Person. Ich hatte Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass Will überhaupt irgendwo wohnte. Er beschrieb mir, wie ich zu dem Café kam, in dem er auf dem Weg zur Arbeit immer frühstückte. Es sei aber nichts Besonderes, fügte er hinzu, nur ein ganz schlichtes Café. Nachdem ich aufgelegt hatte, überlegte ich, wie viele Stunden ich eigentlich geschlafen hatte. Eine, vielleicht zwei. Ich ging ins Bad, füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser und tauchte mein Gesicht hinein. Dann betrachtete ich mein Spiegelbild.
Hatte die letzte Nacht tatsächlich stattgefunden?
Inzwischen vermischten sich die Bilder in meinem Kopf, wie in einem Traum. Doch mein Gesicht war der beste Beweis dafür, dass tatsächlich etwas passiert war. Bleich und hohläugig – was für ein Anblick!
Andy’s Café war sehr verraucht, und die meisten Gäste trugen alte Lederjacken und Stahlkappenstiefel. Will winkte mir aus dem hintersten Winkel zu. Ich nahm ihm gegenüber Platz. Wir berührten uns nicht.
»Ich nehme ein schlichtes Pfannenfrühstück«, sagte er.
»Und du?«
»Bloß einen
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