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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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auffiel, war ihr langes Haar, das die Farbe von reifen Aprikosen hatte. Das Zweite waren ihre Hände, die sie auf der Decke ganz fest zur Faust geballt hatte. Kaum war ich an ihr Bett getreten, stand auch schon die Nachtschwester neben mir – eine riesige Frau, deren Gang mich an ein stampfendes Schiff erinnerte und deren Schuhe auf dem Linoleumboden laut quietschten. »Sie dürfen sie auf keinen Fall aufregen«, erklärte sie, während sie mit ihren gewaltigen Fingern nach dem zarten Handgelenk der Frau griff und es eine Minute lang festhielt, wobei sie den Kopf schräg legte, als würde sie einem Geräusch lauschen. Dann verließ sie quietschenden Schrittes den Raum und zog die Tür hinter sich zu.

    »Hallo, Bryony.« Sie starrte mich an, als könnte sie mich nur unscharf sehen. Ihre Pupillen waren geweitet. Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich. Dabei fiel mir auf, dass ich zwei verschiedene Socken trug. »Ich heiße Kit.«
    »Hallo«, murmelte sie und kämpfte sich in eine sitzende Haltung, sodass ihr Haar nach vorn fiel. Sie hatte ein sehr auffallendes, etwas flaches Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem markanten Kinn. Ihre Augen waren hellbraun, fast golden.
    »Sie haben einen Schock erlitten«, fuhr ich fort, »aber jetzt sind Sie in Sicherheit. Es besteht für Sie kein Grund mehr, sich zu fürchten. Okay?«
    Sie nickte und brachte ein kleines Lächeln zustande.
    »Sie müssen entschuldigen«, sagte sie mit leiser Stimme.
    »Es tut mir Leid, dass ich noch so schwach bin.«
    Ich erwiderte ihr Lächeln. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Kann ich Ihnen irgendetwas bringen? Tee?
    Oder etwas zu essen?«
    »Nein, danke.«
    »Sehen Sie, draußen wird es schon hell.« Ich deutete auf das kleine Fenster. »Die Nacht ist fast vorüber.«
    »Ich möchte nach Hause.«
    »Ich bin sicher, das wird sehr bald möglich sein. Wo sind Sie zu Hause?«
    »Nach Hause«, wiederholte sie, ohne auf meine Frage einzugehen, und hob eine Hand an den Kopf. »Warum fühle ich mich so komisch?«
    »Sie haben ein schockierendes Erlebnis hinter sich. Da ist es ganz normal, dass Sie sich komisch fühlen.«
    »Wie die Leute nach der Fußballkatastrophe?«
    »So ungefähr.«
    »Aber ich bin gar nicht dieser Typ Mensch.« Sie strich mit den Fingern über ihr Gesicht, als müsste sie ihre Gesichtszüge nachzeichnen, um sich auf diese Weise ins Gedächtnis zu rufen, wer sie war. »Was ist passiert?«
    »Sie erinnern sich nicht?« Oban würde noch niedergeschlagener sein, wenn er das hörte.
    »Ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern, wie in einem Nebel. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Bitte.« Sie beugte sich vor und berührte ganz leicht meinen Handrücken.
    Ich musste an jene verwirrten, nebeligen paar Sekunden auf dem Polizeirevier von Stretton Green denken, die Wärme des Blutes auf meiner Haut. »Sie sind am Kanal von einem Mann überfallen worden. Aber Sie hatten Glück. Zwei andere Männer sind Ihnen zu Hilfe gekommen. Ihr Angreifer rannte davon. Natürlich wird alles, woran Sie sich erinnern können, der Polizei von großem Nutzen sein, aber Sie sollten nicht versuchen, etwas zu erzwingen. Lassen Sie es einfach von selbst wiederkommen, und verdrängen Sie es dann nicht.«
    Sie nickte, setzte sich noch ein wenig aufrechter hin und zog die Bettdecke um ihren Körper.
    »Mein Kopf tut weh«, sagte sie, »und ich habe Durst.
    Kann ich ein Glas Wasser haben?«
    Ich schenkte aus dem Krug, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand, einen Plastikbecher voll. Als sie danach griff, zitterten ihre Hände so heftig, dass ein wenig Wasser auf die Bettdecke schwappte und sie die zweite Hand zu Hilfe nehmen musste.
    »Danke«, sagte sie. »Gott, bin ich müde. Kommt Gabriel bald?«
    »Gabriel?«
    »Mein Mann.«

    »Ich bin sicher, dass die Polizei ihn verständigt hat.«
    »Gut.« Sie legte sich wieder hin.
    »Können Sie mir erzählen, woran Sie sich erinnern, Bryony?«
    »Ich erinnere mich … ich erinnere mich an eine Gestalt in der Dunkelheit. Eine Gestalt, die aus der Dunkelheit kam.« Sie schloss die Augen. »Und daran, dass jemand etwas gerufen hat.« Sie riss die Augen wieder auf. »Ich kann nicht!«, sagte sie. »Bitte. Noch nicht. Es ist alles so wirr in meinem Kopf. Wenn ich versuche, etwas zu fassen zu bekommen, entgleitet es mir sofort wieder, als würde ich versuchen, mich an einen Traum zu erinnern. Einen schrecklichen, schrecklichen Traum.«
    »Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit. Kannten Sie den

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