Das sag ich dir
bringen würde. Und ich dachte an denjenigen, der immer zwischen uns stehen würde - an ihren Vater.
FÜNFUNDZWANZIG
Als ich nach unten ging, war es später Vormittag. Ajita war längst aus meinem Bett verschwunden. Mustaq saß in einem Trainingsanzug vor seinem Computer am Tisch und aß mit den Fingern Melone und Erdbeeren. Am anderen Ende des Tisches hockten ein paar Leute, die so verwüstet aussahen, als wären sie soeben mit knapper Not einer Bombenexplosion entgangen. Mustaq schenkte mir Saft ein. »Ich rede lieber nicht zu laut«, sagte er. »Ich hatte auch eine super Nacht. Ich war überhaupt nicht im Bett. Um vier Uhr habe ich meinen Trainer angerufen und ihn überredet, für ein frühes Training herzufahren. Dann habe ich meinen Manager angewiesen, mein Studio herzurichten. Ich hatte seit Jahren keinen Spaß mehr daran, Musik zu machen. Du weißt ja, dass mein Dad es gehasst hat, wenn ich Klavier gespielt habe, oder? Einmal, ich war gerade in der Schule, hat er mein Klavier aus der Wohnung schaffen und auf den Müll werfen lassen. Ob mich das später gehemmt hat?«
»Höchstwahrscheinlich, ja.«
»Unser gestriges Gespräch hat mir neuen Schwung gegeben, Jamal. Ich habe einen Ernährungswissenschaftler und einen Lebensberater. Und jetzt habe ich auch noch dich, um mich inspirieren zu lassen.«
»Wirklich?«
»Die besten neuen Bands kommen aus Großbritannien, und sie singen auf Englisch. Du musst mir helfen, neue Songs zu schreiben, mein Freund - über meine Kindheit und meinen Vater. Vermutlich gibt es nicht viele Rockstars, deren Vater ermordet wurde. Wo soll ich anfangen?«
»Mit dem, was dir gerade in den Sinn kommt.«
Als er zu tippen begann, sagte er: »Ich fange mit dir an - wie du eines Tages unser Haus betreten und überglücklich meine Schwester angeschaut hast. Ich war damals irre schüchtern, aber du hast mich angelächelt, als würdest du verstehen und als wäre alles in Ordnung, was ich tat.«
Ich würgte ein wenig Kaffee hinunter, konnte aber kein Essen bei mir behalten. Also ließ ich Mustaq allein, der vor dem Computerbildschirm summte und gestikulierte, ging eine Stunde in den Feldern spazieren und wartete im Anschluss auf das Mittagessen.
Champagner wurde ausgeschenkt. Vielleicht lag es am vielen Kauen und am wiederholten Heben des Glases, dass ich das Gefühl hatte, als würde mir das letzte bisschen Kraft geraubt werden. Zum Glück gab es viele Möbel, auf denen man sich ausstrecken konnte. Und während meine Lider schwerer wurden, kam mir an diesem unwirklichen Nachmittag der Gedanke, dass es für einen Menschen der Idealzustand war, bei Mustaq auf einer Chaiselongue zu liegen, während alle anderen redeten und tranken, Karten spielten oder Musik hörten und Bedienstete leise zwischen den Gästen hin und her glitten und dies und das auf Tabletts anboten.
»Warum bin ich nicht längst darauf gekommen?«, sagte ich. »Genau das ist der Sinn des Geldes!«
Ich schlug die Augen auf und erblickte Henry, der grinsend über mir aufragte. »Haben wir das nicht sei Jahren gepredigt, mein Freund? Der entfesselte Kapitalismus. Hier ist er, und hier sind wir. Das ist das Leben!«
Er bückte sich, um mir einen Kuss zu geben. »Bleib ja auf dem Teppich! Nichts ist vollkommen!« »Sag nicht so etwas!«
»Hätte sich George nicht etwas Billigeres leisten können?« Das war Miriam, die lachend neben mir stand. Sie legte sich kurz neben mich, drückte ihr Gesicht dicht an meines und flüsterte mir hitzig ins Ohr: »Vielen, vielen Dank, dass du mich hierhergeführt hast, Bruder. Du hast mein Leben im letzten Jahr grundlegend verändert. Du warst netter zu mir, als es Vater je war. Das musste ich dir unbedingt sagen, und nun weißt du Bescheid.« Sie küsste mich und ging zu Ajita, die gerade aufgestanden war. Als ich meine Schwester in einem langärmeligen T-Shirt, mit enger, bestickter Jeans und hochhackigen Schuhen durch den Raum gehen sah, merkte ich, wie viel sie abgespeckt hatte, mindestens zwanzig Kilo. Ihr Gesicht war fast hager, mit tiefen Falten, und ohne all die Stecker und Stifte wirkten ihre Augen größer. Sie strahlte vor Begeisterung. Offenbar hatte sie die Mutterrolle aufgegeben, um die Frau oder Partnerin eines Mannes zu werden. Dem Beispiel von Valeries leicht angeberischer Art folgend, begann sie ihre Sätze inzwischen gern mit Phrasen wie: »Als Lebensgefährtin eines wichtigen Theaterregisseurs ...«
Henry setzte sich zu mir. »Du hast mir nie erzählt, dass Ajita so
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