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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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fühlen.«
    »Angst zu haben ist normaler, als gar nichts zu fühlen.«
    »Meist quält mich eine furchtbare Vorahnung«, sagte sie. »Als würde bald eine Katastrophe über mich hereinbrechen.«
    »Das ist doch längst passiert. Weißt du noch, was du mir über deinen Vater erzählt hast?«
    »Warum sollte ich das vergessen haben? Ich hasse ihn nicht. Er hat damals eine schreckliche Zeit durchlebt. Und es ist ja nicht deine Familie.«
    »Am College hast du mir einmal erzählt, wie sehr du ihn geliebt hast. >Er ist so zärtlich<, hast du gesagt.«
    »Ja, und? Was ist komisch daran?«, fragte sie. »Er hat mich immer geküsst und gestreichelt. Manchmal hat er die Geduld verloren und uns als Idioten beschimpft, aber als Vater war er nie grob.« Sie ließ sich auf das Kissen sinken. »Du wolltest eine Feministin aus mir machen und hast mir Bücher zu dem Thema gegeben. Damals war das neu. Erinnerst du dich an diese Frau namens Fiona? Sie war eine der Organisatorinnen des Streiks gegen meinen Vater. Ich habe sie erst zwischen den Streikposten und danach im College gesehen. Sie war wahnsinnig fett, und ihre Brüste waren so wabbelig wie Wackelpeter. Sie hat immer große Ohrringe und Latzhosen getragen.«
    »Sie hat gestern im Fernsehen ein Gesetz verteidigt, das es erlauben soll, Leute ohne Prozess einzubuchten.«
    »Ist sie dünn? Jamal, hast du mich als Frau jemals anders haben wollen?«
    »Wir waren eine Generation von Dissidenten«, erwiderte ich. »Menschen wie deinen Vater - wir haben sie damals Kapitalisten genannt - haben wir aus Prinzip gehasst. In anderen europäischen Städten sind sie von Leuten wie uns entführt und ermordet worden.«
    »Ja, aber das wolltest du nie tun. Du könntest niemanden töten.«
    »Ich war immer stinksauer auf meine Eltern, besonders auf meinen Vater«, sagte ich. »Ich fand es merkwürdig, dass du deine Eltern ohne jede Spur von Hass geliebt hast.«
    Wir schwiegen. Ich glaubte schon, sie wäre eingeschlafen. »Jamal«, sagte sie, »heute Abend hat mein Bruder mir erzählt, was unser Vater dir angetan hat. Warum hast du mir das nie gesagt? Ich habe dir alles gebeichtet, und du hast alles für dich behalten.«
    »Hätte ich deinen Kummer noch vergrößern sollen?« Ich fuhr fort: »Als du in Indien warst, habe ich dich so sehr vermisst, dass ich fast verrückt geworden wäre. Beim Aufwachen war mein erster Gedanke immer: Ob sie heute wohl anruft? Diese Trennung war schrecklich. Sie hat mich eine ganze Weile richtig fertiggemacht.«
    Sie rieb sich das Gesicht und fuhr sich im Anschluss durch ihr Haar. »Willst du mir unterstellen, ich hätte nicht an dich gedacht? Ich habe dir sogar Briefe geschrieben - erinnerst du dich noch an das dünne, blaue Luftpostpapier? -, aber ich habe sie nie eingesteckt. London habe ich zwar sehr gemocht, aber nach dem Streik konnte ich einfach nicht dorthin zurückkehren.
    Ich hatte Albträume, ja, aber nicht vom Missbrauch durch meinen Vater, sondern von der brüllenden Menschenmenge vor der Fabrik, Studenten wie wir, die mit Backsteinen und Holzstücken geworfen haben. Sie haben meinen Dad in ein Häufchen Elend verwandelt. Er war ein hart arbeitender Mann, den man aus Afrika vertrieben hatte und der nur das Beste für seine Familie wollte.« Sie fuhr fort: »Ich bin mit Mustaq nach Amerika gegangen, um neu anzufangen. Ich habe im Modebereich gearbeitet und Kleider entworfen. Das war das Geschäft meiner Familie.«
    Wir lagen eine Weile schweigend da. Gelegentlich hörten wir auf dem Hof Gelächter und Stimmen; sonst herrschte Stille.
    »Ich wusste, dass du mich nicht wirklich heiraten wolltest, Jamal. Wir hatten uns ja gerade erst in die Welt aufgemacht. Du warst selbstsicher und energisch und wolltest vorankommen. In Indien wäre ich fast verrückt geworden - ich kann dir nicht beschreiben, wie schlimm es dort für mich war. Ich brauchte unbedingt einen Halt. Ich brauchte einen Mann. Und mit dir hätte das nicht funktioniert.«
    »Hast du einen Mann gefunden?«
    »Ja, ich habe einen guten Mann gefunden. Gut möglich, dass er zu gut ist. Ich konnte ihn nicht abweisen, ohne ihm wehzutun. Mustaq war scharf auf ihn und hat alles bezahlt. Er hat sogar seinen Start ins Berufsleben finanziert.«
    Sie erzählte ausführlicher von ihren Kindern, ihrer Arbeit, ihrem Alltag. Ich blieb so lange wach wie möglich, lauschte erst ihren Worten und dann ihrem Atem, dachte an Valentin, Wolf und unsere gemeinsame Zeit sowie daran, was der nächste Tag für Ajita und mich

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